Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
EU in den letzten Jahren stark angestiegen, aber eine Mehrheit ist weiterhin überzeugt: Unsere komplexe und zunehmend globale Realität braucht Regelungen im nationenübergreifenden Rahmen. Wir alle in Europa haben große politische und wirtschaftliche Vorteile von der Gemeinschaft.
Was uns als Europäer allerdings auszeichnet, was europäische Identität bedeutet, bleibt schwer zu umreißen. Junge Gäste in Bellevue haben mir vor Kurzem bestätigt, was wohl vielen hier im Saal vertraut sein dürfte: »Wenn wir in der großen, weiten Welt sind, empfinden wir uns als Europäer. Wenn wir in Europa sind, empfinden wir uns als Deutsche. Und wenn wir in Deutschland sind, empfinden wir uns als Sachse oder Hamburger.«
Wir sehen, wie vielschichtig Identität ist. Europäische Identität löscht weder regionale noch nationale Identität, sondern existiert neben diesen. Gerade habe ich an der Universität Regensburg einen Studenten getroffen, der als Pole in Deutschland aufwuchs, mit Polnisch als Muttersprache, und bei Sportereignissen die polnische Fahne trug. Aber als er ein Semester in Polen studierte und seine Kommilitonen ihn als Deutschen wahrnahmen, wurden ihm auch diese Teile seiner Identität bewusst. Es ging ihm wie vielen: Oft nehmen wir unsere Identität durch die Unterscheidung von anderen wahr.
»Man braucht nur Europa zu verlassen, gleich in welcher Richtung, um die Realität unserer Kultureinheit zu spüren«, fasste der Schweizer Philosoph Denis de Rougemont diese Erfahrung Ende der 1950er Jahre zusammen. »Schon in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion sofort und ohne jeden Zweifel in Asien werden Franzosen und Griechen, Engländer und Schweizer, Schweden und Kastilianer als Europäer betrachtet. (…) Von außen gesehen ist die Existenz von Europa augenscheinlich.«
Ist die Existenz Europas von innen gesehen genauso augenscheinlich? Schon geografisch ist der Kontinent schwer zu fassen – reicht er beispielsweise bis zum Bug oder bis zum Ural? Bis zum Bosporus oder bis nach Anatolien? Auch die identitätsstiftenden Bezüge unterlagen in seiner langen Geschichte mehrfach einem Wechsel. Heute wissen wir, dass sie sich auf ein ganzes Ensemble beziehen – angefangen von der griechischen Antike über die römische Reichsidee und das römische Recht bis hin zu den prägenden christlich-jüdischen Glaubenstraditionen.
Doch wie sieht es heute aus? Was bildet heute das einigende Band zwischen den Bürgern Europas? Woraus schöpft Europa seine unverwechselbare Bedeutung, seine politische Legitimation und seine Akzeptanz?
Als die Europäische Union im November den Friedensnobelpreis erhielt, haben die Festredner Europa als Friedensprojekt beschrieben. Unvergesslich, wie Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Rede vor der Jugend in Zürich die »Neuschaffung der europäischen Familie« forderte. Unvergesslich, dass damals die tiefste Überzeugung von Politikern wie Bevölkerung in drei Worten auszudrücken war: »Nie wieder Krieg!« Unvergesslich auch, wie siebenhundert Politiker und Intellektuelle 1948 in Den Haag auf dem Europäischen Kongress zusammenkamen, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie etwa der britische Philosoph Bertrand Russell, der italienische Schriftsteller Ignazio Silone, auch Deutsche wie Konrad Adenauer, Walter Hallstein und Eugen Kogon.
»Ob der ewige Frieden auf dieser Erde möglich ist, weiß kein Mensch«, so fasste der französische Philosoph Raymond Aron später die Intentionen zusammen. »Doch dass die Beschränkung der Gewalt in diesem gewaltsamen Jahrhundert unsere gemeinsame Pflicht geworden ist, darüber gibt es keinen Zweifel.«
Allerdings wurde Europa recht bald zu einem Konzept nur für Westeuropa. Im Kalten Krieg zerfiel der Kontinent in zwei politische Lager. Doch mochten Ost- und Mitteleuropa auch über vierzig Jahre abgeschnitten sein, so haben seine Bewohner Europa im Geiste nie verlassen. Für sie und auch für mich war unser überzeugtes Ja zu dem freien, demokratischen, wohlhabenden Europa so etwas wie der zweite Gründungsakt Europas, ein nachgeholter Beitritt für jenen Teil des Kontinents, der nicht von Anfang an dabei sein konnte. Es war zugleich eine qualitative Erweiterung für Europa. So, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Friedensprojekt gewesen war, so war es 1989 ein Freiheitsprojekt.
Die junge Generation, die in den 1980er Jahren und später geboren wurde, sieht Europa wieder mit ganz anderen Augen. Ihre Großeltern und
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