Nicht die Welt (German Edition)
Zimmern zu entfliehen. So stand ein beträchtlicher Teil der Wohnungen schon vor der Katastrophe leer. Er war erleichtert, dass sich niemand im Treppenhaus aufhielt. Die Sonne war bereits aufgegangen und es hatte aufgehört zu regnen. An der Kuppel wurde weiterhin gearbeitet. Gerade waren die Scheinwerfer ausgeschaltet worden, als ein Luftschiff eintraf. Auf der breiten Straße ging er weiter nach Westen und sah die Häuser mit ihren schwarzen Fassaden, die bei Tageslicht viel trostloser wirkten als in der Nacht. Nachdem die Straße einen Schwenk nach links gemacht hatte, fühlte er sich wesentlich wohler, weil die Kuppel nicht mehr in seinem Sichtfeld war, wenn er sich umblickte.
Große Monolithbauten gab es weiterhin am Straßenrand, jedoch waren dazwischen immer mehr Baulücken und Häusertrümmer zu sehen. Die Stadt hatte sich nie vollständig von den Bombardierungen und Straßenkämpfen während des Krieges erholt und bot schon vor der Katastrophe einen traurigen Anblick. Was erschwerend hinzu kam, war der bedrohlich wirkende Baustil nach dem Krieg, der geprägt war von der Angst vor Vergeltungsschlägen. Plötzlich sah er in der Ferne jemanden über die Straße rennen. Er hielt den Atem an. Es war die junge Frau, die sich ihrer Schutzkleidung entledigt hatte und offensichtlich blutete. Sie presste ihre rechte Hand auf den linken Unterarm und rannte zu einem großen Gebäudekomplex in der Nähe der alten Flaktürme. Der junge Mann wusste, dass es sich um das alte Krankenhaus handeln musste. Als er den Eingangsbereich betreten hatte, fand er jedoch niemanden vor. Das Krankenhaus schien ebenso geplündert worden zu sein. Papiere und medizinische Geräte lagen überall auf dem Boden und einige Patientenbetten blockierten die Glastüren am Eingang. Es befand sich jedoch in einem weitaus besseren Zustand als der Monolithbau, in dem er zuvor geschlafen hatte. Anscheinend war es noch lange Zeit nach der Evakuierung in Betrieb gewesen. Wo ist sie nur hingegangen?, fragte er sich und folgte den Schildern, die zur Notfallaufnahme führten.
Er schob die Tür des Aufnahmezimmers zurück und sah die junge Frau, wie sie auf einer Behandlungsliege saß. »Kannst du mir helfen?«, fragte sie, die Hand auf die blutende Wunde gepresst.
»Ja ... sehr gerne«, antwortete er, öffnete seinen Rucksack und holte einen Verband heraus. Der Ausstattung im Krankenhaus traute er nicht sonderlich. Die Blutung war nicht stark, und er konnte ihr mit einem einfachen Verband helfen. »Wo ist deine Schutzkleidung? Du musst sie anlegen, sonst wirst du dich vergiften. Du darfst auf keinen Fall den Staub einatmen. Hier, nimm wenigstens das hier«, sagte er und holte eine Staubmaske aus seinem Rucksack.
»Nein, danke, ich brauche keine«, entgegnete sie unbekümmert, während sie sich die blutige Hand an der Kleidung abwischte.
»Was machst du hier?«, fragte er.
»Ich suche meinen Bruder. Er ist verschwunden und muss hier irgendwo in der Stadt sein.«
»Dann hoffe ich, du hast Glück und findest ihn.«
»Danke.« Die junge Frau sah ihn lange Zeit an. »Woher kommst du?«
»Ich? Eigentlich von hier. Dann kam die Katastrophe und wir sind nach Neustadt geflüchtet. Da war ich noch ein Kind.«
»Neustadt«, wiederholte sie. »Wie lebt es sich da so?«
»Mir gefällt es dort. Am Anfang war es natürlich sehr schwierig für meine Familie und mich, weil wir Flüchtlinge waren. Und die Menschen in Neustadt haben die Flüchtlinge nicht gemocht. Für mich war die Umstellung aber nicht so schlimm, weil ich noch sehr jung war, als wir aus der Stadt flohen.«
»Erzähl‘ mir doch mehr von deiner Welt.«
Er zog die Schutzmaske ab, um besser reden zu können. »Was willst du wissen? In Neustadt gibt es viele Parks, alles ist schön grün und es gibt viele Neubauten. Ich habe sogar eine eigene kleine Wohnung. Leider gibt es zur Zeit sehr wenig Arbeit, doch man kann sich die Zeit an den neuen öffentlichen Digitalfenstern vertreiben, die man kostenlos benutzen darf. So kann ich jetzt auch an Wahlen teilnehmen, was vor ein paar Jahren noch nicht ging.«
Die junge Frau hustete stark. Er nahm die Schutzbrille ab, zog seine Kapuze zurück und sah sie mit sorgenvoller Miene an. »Du musst unbedingt vorsichtiger mit der Strahlung umgehen. Sie ist eine große Gefahr. Unsichtbar und heimtückisch. Ich bin noch eine Eins, und ich will es bleiben.«
»Was meinst du damit?«
»Die Melder in Neustadt teilen dich in eine Gruppe ein, je nachdem wie
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