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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Krepinsky
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fluchtartig den Saal und ging zurück auf die Straße. Eine alte Frau fegte den Bürgersteig auf der anderen Seite. Sie schien ihn jedoch nicht zu bemerken. Sonst war weit und breit niemand zu sehen. An der nächsten Kreuzung bog er rechts ab und erblickte sein altes Wohnhaus. Die Fassade wirkte bedrohlich dunkel und von den für die Häuser in der Gegend typischen Balkonen blätterte der Putz, einige waren sogar schon vollständig heruntergefallen. In einem der verbliebenen Balkone wuchs ein kleines Bäumchen. An die Wand neben dem Eingang hatte jemand »Fürchte das lächelnde Gesicht des zornigen Mannes« geschrieben. Die Farbe schien noch ganz frisch zu sein, nur wenige Tage alt. Eine Haustür gab es nicht mehr. Mit einigem Unbehagen betrat er das Gebäude.
     
    Die Holztreppe knarrte bedenklich, als er hochstieg, wobei er fehlende Stufen mit großen Schritten überwand. Hoffentlich trägt mich diese gute Treppe noch einmal, ein bisschen schwerer geworden bin ich, dachte er dabei. In einer Spalte zwischen zwei Stufen lagen alte Schwarzweißfotos, die an den Rändern Brandspuren aufwiesen. Die Menschen darauf kannte er nicht. Er erreichte die Wohnung im ersten Stockwerk, in der er mit seiner Familie gelebt hatte. Die Eingangstür hing nur noch am unteren Ende in den Angeln. Vorsichtig schob er sie zurück und betrat die ihm so vertraute Stätte seiner Kindheit. In den Zimmern waren die meisten Einrichtungsgegenstände gestohlen worden und überall hatten die Plünderer Schmierereien an den Wänden hinterlassen. Behutsam berührte er beim Betreten seines Kinderzimmers den Türrahmen. Bei ihrer Flucht aus der Stadt gab es gerade genügend Zeit, um einige persönliche Erinnerungsstücke einzupacken. Da sie kein eigenes Auto besaßen, durften sie nur das mitnehmen, was sie tragen konnten. Ihr Blockwart rettete ihnen damals das Leben, weil er die tödliche Gefahr früh erkannte und eine rechtzeitige Evakuierung veranlasste. Sie hatten sogar Schutztabletten bekommen. Wie er später in Neuwelt herausgefunden hatte, musste es sich dabei um Jodtabletten gehandelt haben. Von offizieller Seite war die Gefahr zunächst heruntergespielt worden. Viele Menschen wurden erst nach zwei oder drei Tagen evakuiert und bekamen folglich eine hohe Strahlendosis ab. Andere wollten die Stadt überhaupt nicht verlassen. Zu Zehntausenden lagen sie nach einigen Wochen tot auf den Straßen oder in ihren Wohnungen. Die Wächter kümmerten sich um die Beseitigung der Leichen.
     
    Der junge Mann blickte sich in seinem alten Kinderzimmer um, wo er zusammen mit seinen Geschwistern gelebt hatte. Die Scheiben des Fensters waren zerbrochen und ein Vogel brütete auf der Fensterbank. Die Wohnverhältnisse waren hier sehr beengt gewesen, nicht so großzügig wie später in Neustadt, wo er ein eigenes Zimmer hatte. In seiner Erinnerung waren es jedoch unbeschwerte Jahre. Sie kannten den Krieg lediglich aus Erzählungen und die Erwachsenen glaubten, dass der Feind niemals wagen würde, sie anzugreifen, bedeutete es doch gleichzeitig sein eigenes Ende. Auf dem Boden lag ein altes, vergilbtes Buch. Als er es aufhob, sah er, dass es sein altes Märchenbuch war. Neben der Illustration eines Märchens über ein Töpfchen, das unaufhörlich Brei produzieren konnte, befand sich eine handschriftliche Notiz: »Ich möchte die Welt begreifen wie ein Alter, ohne alt zu sein, ich will sie mit den Augen eines Kindes sehen, ohne ein Kind zu sein, ich will das Leben spüren wie ein Kranker, ohne krank zu sein.« Er schloss seine Augen und versuchte, sich seine Kindheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Doch stattdessen erschien vor seinem geistigen Auge die junge Frau, wie sie auf der Trage im Krankenhaus saß, ihre Hand auf die blutende Wunde gepresst. An ihr Gesicht konnte er sich nicht mehr erinnern, so sehr er sich auch bemühte. Es war wie ausgelöscht. Gleichzeitig wuchs seine Begierde, sie wiederzusehen. Und das nächste Mal werde ich besser auf sie aufpassen, dachte er.
     
    Er setzte sich auf sein altes Kinderbett, von dem nur noch das Gestell vorhanden war, und grübelte. Was soll ich als Nächstes tun?, fragte er sich. Seine eigentliche Mission war die Suche nach einer bestimmten Goldmünze für seinen Auftraggeber, die angeblich im Innenministerium zu finden war. Dieser hatte ihn in Neustadt angeheuert, wo er ihn in einem der neuen Wolkenkratzer empfing und erzählte, wie wichtig die Münze für ihn sei und dass er ihm alles Erdenkliche dafür bezahlen

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