Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
mein Vater fügte sich diesem strengen Regiment mit Sicherheit nicht – misshandelte Opa Abit seine Kinder. Einmal verprügelte er meinen Vater mit dem Schürhaken dermaßen, dass er heute noch Narben am Kopf davon hat, eine besonders dicke hinter dem Ohr. Um der Tortur zu entgehen, sprang Hamid sogar aus dem Fenster im zweiten Stock in den Garten, so groß war seine Angst. Wie seine Brüder musste er seinen Lohn am Monatsende abgeben und konnte froh sein, wenn er ein Taschengeld erhielt.
Heute glaube ich, dass Hamid nie die Anerkennung von seinem Vater erhielt, die ein junger Mann braucht, um ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Mein Großvater war ein eigenartig kühler und ernster Mensch, und als ich ein einziges Mal für ein Familienfoto auf seinem Schoß sitzen musste, fühlte ich mich unbehaglich – so als säße ich auf einem schrecklich unbequemen Stuhl. Mein Opa war dünn, fast knöchern, trug stets Jeans, karierte Hemden und eine Schiebermütze.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Großvater auch nur ein einziges Mal das Wort an mich richtete, und doch beobachtete ich ihn bei meinen Besuchen oft stundenlang. Wie alle Männer in meiner Familie achtete auch Abit Al-Mer stets auf sein Äußeres. Er saß auf dem Sofa und feilte sich die Nägel, schnitt sich mit der Nagelschere den Schnurrbart zurecht oder entfernte sich die Haare, die ihm aus der Nase und den Ohren wuchsen. Oft sah ich ihm zu, wie er sich mit einem Zigarettenstopfer aus orangefarbenem Kunststoff Zigaretten machte, manchmal durfte ich dabei sogar helfen. Wenn er auf dem Sofa lag und ein Schläfchen machte, mussten wir alle mucksmäuschenstill sein, damit er ja nicht gestört wurde.
Nein, mein Opa Abit war nicht der Vater, der Sinn für die Träume und Wünsche seines Ältesten hatte, zu denen auch eigenes Geld und natürlich coole Autos gehörten. Dennoch schaffte es Hamid, gemeinsam mit seinem Schwager, Onkel Youssef, den ich immer im Stillen »Mickey Mouse« nannte, weil er einen tätowierten großen Punkt auf der Nasenspitze hatte, einen neuen, lukrativeren Nebenerwerb aufzutun: die Überführung von gebrauchten deutschen Autos nach Saudi-Arabien.
In coolen Autos quer durch Europa, durch die gesamte Türkei, vorbei an Antakya und den staubigen Dörfern, in denen die arme Verwandtschaft nach wie vor Ziegen hielt, Tabak anbaute und in Lehmhütten wohnte, durch Syrien und den Libanon hinunter auf die arabische Halbinsel – das war ganz nach Hamids Geschmack.
Ich sehe die beiden vor mir in – sagen wir – einem hellgrünen Opel-Rekord, dem Alltag, dem Bergbau und vor allem dem strengen Opa Abit entflohen: Youssef am Steuer fährt viel zu schnell eine Landstraße entlang, irgendwo zwischen der türkischen Grenze und der syrischen Stadt Aleppo. Der heiße Asphalt schimmert, als sei er flüssig geworden. Pinkfarbener Oleander am Straßenrand rauscht an ihnen vorüber. Hamid schält Orangen und wirft die Schalen aus dem Autofenster. Aus den Boxen schallt laute Musik.
Hamid zündet einen Joint an und zieht an ihm, reicht ihn seinem Schwager. Er blinzelt in die Sonne und zieht aus der Brusttasche seines Hemds ein Foto hervor. Es zeigt eine hübsche Blondine, Hamids aktuelle Freundin. Youssef schaut kurz darauf, seufzt und sagt: »Alter, mit dir würde ich gerne tauschen!«
Hamid grinst breit und versteht seinen Schwager absichtlich falsch. »Tauschen? Aber gerne. Fahr rechts ran, Kumpel, dann fahr ich eine Weile.«
Youssef schnappt sich das Foto. Etwas flattert aus dem Fenster davon.
»Ey, du Arschloch«, schreit mein Vater in jähem Zorn und boxt seinen Schwager hart gegen die Schulter. »Halt sofort an! Hol das Foto zurück, du verfickte Strafe Gottes!«
Youssef fährt rechts ran und bringt den Wagen zum Stehen. Er lacht gutmütig über Hamids Zorn. Wie ein Zauberer zieht Youssef das Foto wieder hervor. Er hat etwas anderes aus dem Fenster flattern lassen, und der smarte Hamid ist darauf hereingefallen. Der schnappt sich das Foto, lacht grimmig und versetzt seinem Schwager mit der flachen Hand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
Sie tauschen die Plätze, jetzt sitzt Hamid am Steuer. Es wird Abend, und die beiden nähern sich einer Kleinstadt. Da sind Händler am Straßenrand, die ihre Obst- und Gemüsestände zusammenpacken, auf Karren laden und in Richtung Stadt schieben. Hamid legt eine neue Musikkassette ein, die wehmütige Stimme der arabischen Sängerin Feyruz erfüllt den Wagen.
Plötzlich ein dumpfer Knall.
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