Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Holzkarrenteile spritzen rechts und links am Wagen vorbei. Melonen zerplatzen auf der Windschutzscheibe. Hamid hält fluchend an. Als sie aussteigen, werden sie von wütenden Menschen angegriffen. Während aus dem Wagen immer noch die Stimme von Feyruz ertönt, bricht draußen ein wahrer Tumult los: Hamid hat nicht nur einen Händlerkarren geschrottet und eine Wagenladung Früchte verdorben. Der Junge, der den Karren schob, liegt bewusstlos in seinem Blut zwischen dem Obst. Hamid ist ihm über beide Beine gefahren. Sie sehen nicht besser aus als die zermatschten Früchte ringsum.
Dem Jungen müssen beide Beine amputiert werden. Hamids coole Reise endet im Gefängnis. Dort lässt er sich zwei Buchstaben und einen deutschen Adler auf den Arm tätowieren: H für Hamid und S für Saliha. Opa Abit bezahlt eine hohe Kautionsgebühr, damit Hamid vorzeitig entlassen wird. Und dann? Wieder gibt es zwei Versionen darüber, wie die Geschichte weitergeht, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Salihas Familie erzählt sie folgendermaßen: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, lungerte Hamid Tag und Nacht vor Salihas Haus herum. Ihr Vater hat ihm gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen, seine Tochter sei ihm für einen Verbrecher wie ihn, den man aus dem Gefängnis holen müsse, zu schade. Das wollte Hamid aber nicht hinnehmen. Lauthals forderte er Tag für Tag, man solle Saliha herausgeben. Sind sie nicht verlobt? Hat er sich nicht ihre beiden Anfangsbuchstaben auf den Arm tätowieren lassen? Zeigt der deutsche Adler nicht klar und deutlich, dass er gedenkt, Saliha mit nach Deutschland zu nehmen und ihr dort ein schönes Leben zu bieten?
Schließlich, so mein Großvater, Salihas Vater, gab er nach. Die ganze Sache wurde einfach zu peinlich, da fügte er sich lieber. Und bewies Hamid mit seinem Verhalten nicht, wie ernst es ihm mit Saliha war? Also gut, die Hochzeit wurde gefeiert. Ein ganzes Kilo Goldschmuck musste Hamid Saliha zum Brautgeschenk machen. Das ist dort, wo meine Familie herkommt, so üblich und als Absicherung der jungen Frau gedacht, für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte mit der Ehe. Die beiden wurden Mann und Frau, und Saliha packte ihre Sachen und kam mit nach Mönchengladbach.
»Nein, nein, nein«, beteuerte Hamid später und mit ihm der gesamte Al-Mer-Clan. »Die Sache war vollkommen anders!« Sein Vater habe ihn erpresst, damals, als er im Gefängnis saß. S stand keinesfalls für Saliha, sondern für Sabine, seine damalige deutsche Freundin. Doch Opa Abit sei zu ihm gekommen und habe ihm angeboten, die Kaution zu bezahlen. Dazu sei er bereit, aber nur unter der Bedingung, dass er endlich sein Versprechen einlöse, Saliha zu heiraten und mit nach Deutschland zu nehmen, so wie es seit Langem ausgemacht war.
»Was hätte ich tun sollen«, fragte Hamid und warf theatralisch die Arme in die Luft. »Wollte ich etwa im Gefängnis verfaulen?« Und so heiratete er Saliha, auch wenn er, wie er behauptete, dazu nicht die geringste Lust hatte. »Sie war ein Mädchen vom Dorf. Sie konnte weder schreiben noch lesen. Was in aller Welt sollte ich mit einer solchen Frau anfangen?«
Großvater Abit war es gelungen, in der Hermann-Löns-Straße in Mönchengladbach-Rheydt zwei Etagen in einem großen Haus zu mieten, in dem die gesamte Familie Al-Mer »Platz« hatte. Das ist natürlich übertrieben, denn wirklich richtig Platz hatte man dort nicht: Es gab ein Schlafzimmer für die Eltern und ein Kinderzimmer, das sich sechs der Kinder bis zu ihrem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr teilten. Mittelpunkt der Wohnung war die Küche, in der sich auch die einzige Dusche befand, sodass man alle anderen erst rausscheuchen musste, wollte man sich in Ruhe waschen. Ganz oben unter dem Dach war stets eine kleine Wohnung für frisch verheiratete Paare reserviert, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatten. Und hier zogen Hamid und Saliha nach ihrer Hochzeit ein.
Ob sie je eine Phase hatten, in der sie miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Saliha war temperamentvoll und hatte ihren eigenen Kopf; sie widersprach Hamid, und das konnte er auf den Tod nicht leiden. Sie weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen und moderne, westliche Kleider anzuziehen. Sie lernte nur das Nötigste auf Deutsch, konnte beim Bäcker »fünf Mohnbrötchen, bitte« sagen, weil Hamid Mohnbrötchen für sein Leben gern aß, und »lecker« oder »schön«. Ansonsten saß sie vor dem Fernseher und sah romantische Schnulzen im
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