Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
im Schritttempo, um im Rückspiegel zu beobachten, wie sie sich aufrappelte, hinter dem Wagen herlief, ihn fast erreichte, um dann erneut Gas zu geben und ein paar Meter weiterzufahren, es zu genießen, wie sie sich mühsam voranschleppte, nach ihrem Kind rief: »Meral! Meral! Du Hundesohn, gib mir mein Kind!« Dieses Spiel setzte er so lange fort, bis sie nicht mehr konnte, um dann gnädig zu warten, bis sie mit letzter Kraft die Autotür erreichte. Die riss sie auf und kletterte zu ihrem kleinen Mädchen auf die Rückbank, zu mir, die ich schreiend und weinend auf dem Kunstleder gekniet hatte und mit angstvoll aufgerissenen Augen, den Schnuller im Mund, durch die Heckscheibe zusehen musste, wie meine Mutter immer wieder im Niemandsland der Landstraßen zurückgelassen wurde, in den Schmutz fiel, sich aufrappelte, und unter Blut und Tränen nach mir rief.
»Es war die Hölle«, sagte Kornelia später.
Warum um alles in der Welt war sie mitgefahren?
Was genau geschieht, als sie Salihas Heimatdorf erreichen? Wieder gehen die Erzählungen auseinander. Stellt Hamid völlig ohne Skrupel Kornelia als seine Zweitfrau vor? Auch Salihas Vater hatte mehrere Frauen, warum also nicht? Es war typisch für meinen Vater, dass man ihm so ziemlich alles abkaufte, einfach weil er so überzeugend charmant und unschuldig auftreten konnte.
»Ach so, das ist also Kornelia? Willkommen.« Gastfreundschaft ist ein hohes Gut dort, wo wir alle herkommen.
Und irgendwann, früher oder später, sagt Hamid zu Saliha: »Ich geh mal eben meine Verwandten besuchen, sie wollen unsere Tochter sehen. Wir sind bald wieder zurück.«
Saliha nickt. Warum auch nicht? Meine Kleider, auch meine Puppe, alles bleibt bei ihr. Mein Vater will mich ja ein paar Stunden später wieder zurückbringen. Schließlich werde ich noch gestillt.
Hamid nimmt mich meiner Mutter vom Arm. Gemeinsam mit Kornelia besuchen wir tatsächlich irgendwelche Verwandten; noch heute habe ich Fotos davon, die in einer Art Garage oder Stall aufgenommen wurden. Auf ihnen sieht man Kornelia, mit verschwollenen Augen scheint sie sich hinter Onkel Momo verstecken zu wollen. Man sieht auch das Heck von Hamids Wagen und mich, wie ich mich auf dem Schoß dieser fremden Verwandten winde. Wann fahren wir zurück zur Mama?
Aber Saliha wird umsonst auf mich warten. Die nächsten dreißig Jahre wird sie warten. Denn ihr Mann fährt mit mir und seiner deutschen Geliebten einfach nach Hause, zurück nach Deutschland. Saliha lässt er im Haus ihrer Eltern hochschwanger zurück.
War für Kornelia die Reise in die Türkei die Hölle, so war es für mich die Heimfahrt. Ein Foto zeigt mich nur mit einer Windel bekleidet verloren am Straßenrand irgendwo zwischen Mutterland und Vaterland hocken, den gelben Schnuller fest zwischen den Zähnen. »Du hast die ganze Fahrt über nur gebrüllt«, erzählte mir mein Vater später, mit einem tiefen Vorwurf in der Stimme, so als wäre es normal, ein Stillkind seiner Mutter wegzunehmen und fünfzig Stunden lang mit ihm auf der klebrigen Kunstlederrückbank ohne Kindersitz durch die Gluthitze zu fahren. Meine Mutter fehlte mir – und ich schrie. Ich war hungrig nach ihrer Milch – und ich schrie. Sie gaben mir nicht genug zu trinken – und ich schrie. Irgendwo in Jugoslawien baute mein Vater einen Unfall – und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Irgendwann hörte ich auf damit, hatte keine Kraft mehr dazu. Dehydriert, mit Tränen und Rotz verschmiert, landete ich schließlich auf Oma Halimas Schoß.
»Das arme Kind«, sagte sie. Das sollte sie noch oft wiederholen in den folgenden Jahren, und meine drei Tanten Amina, Suheila und Yildiz machten es ihr nach. »Das arme, arme Kind. Vermisst sie ihre Mutter nicht?«
Nein, ich vermisste sie nicht. Denn ich konnte mich an all das nicht mehr erinnern. Wie weggewischt sind die ersten Monate meines Lebens, und meine Mutter Saliha verschwand im dichten Nebel des Vergessens, bis es für mich so war, als hätte es sie nie gegeben. Nur in den wenigen abfälligen Bemerkungen meines Vaters tauchte ihr Zerrbild hin und wieder auf, selten genug. Ich fragte nicht nach ihr. Meine Mutter war dumm und aufsässig, klammerte sich an ihr Kopftuch und zog die Mundwinkel nach unten.
»Nein«, antwortete ich, wenn die Tanten wieder ihr Mitleidsgejammer begannen. »Meine deutsche Mama ist meine Mama.«
Von da an war ich »das arme, verlorene Kind«. Bis Oma Halima ihren Töchtern Schweigen befahl. Lange wusste ich nicht, was
Weitere Kostenlose Bücher