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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Wirtschaftsteil. Politik war kein gutes Omen. Gab es womöglich einen neuen Skandal, von dem er noch gar nichts mitbekommen hatte?
    Dabei lag der Mann ganz harmlos da – wenn man von der Blutlache unter seinem Kopf absah, die langsam größer wurde. Berger klickte in seinem elektronischen Telefonbuch den Polizeinotruf an. Vielleicht hatte er sich aus Liebe hinabgestürzt? Tom spürte, wie die Sehnsucht nach Sibylle kleine scharfe Krallen nach ihm ausstreckte. Liebe tut weh, dachte er. Liebe kann einem das Herz zerreißen.
    In der Ferne erklang ein Martinshorn.
    Später fragte ihn der Mann von der Polizei, ob er etwas gehört hätte – einen Schrei, einen Hilferuf – oder etwas gesehen. Berger schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Schrei gehört – nur das Kreischen der Elstern. Das war ein Zeichen gewesen, ganz ohne Zweifel. Ein Zeichen von großer Bedeutung.

2
    Rhön, Weiherhof, einen Monat später
     
    »Politiker lügen immer !«
    Die schärfsten Kritiker der Elche, ersatzweise ihre Ehefrauen … Anne Burau lächelte gefaßt zur Schmalseite des Nebentischs hinüber, wo Monika Seidlitz saß und auf den alten Hubert einredete. Die Frau des Ortsvorstehers hielt ihre schmalen Schultern im hellblauen Pullover so, daß niemandem entgehen konnte, wen sie meinte – niemandem außer dem schwerhörigen alten Mann, der milde lächelte und mit dem Kopf wackelte. Das tat er immer, wenn er gar nichts verstand.
    Sicher hoffte die Seidlitz darauf, daß Anne ihr empört widersprach. Keine Chance, dachte Anne, drehte ihr den Rücken zu und versuchte alles auszublenden, außer den melancholischen Klängen, in die das Trio Woronetz russische Volkslieder verwandelte. Der rotwangige Bassist mit dem blonden Stoppelhaar lächelte zu ihr hinüber und flocht ein paar jazzige Arabesken unter die traurige Weise. Anne neigte den Kopf und lächelte zurück. Als sich die Stimme der Geige im Schlußakkord jubelnd über das Akkordeon und den Zupfbaß erhob, heulte der Terrier von Meiers leidenschaftlich mit. Guter Hund.
    Es roch nach Holzfeuer und gegrilltem Lammfleisch. Plötzlich rückte das Stimmengewirr um sie herum in die Ferne, als ob jemand am Lautstärkeregler gedreht hätte. Und dann fühlte sie sich schweben: Über ihren Nachbarn, über dem Weiherhof, über dem Abschiedsfest, das man ihr gab, so, als ob sie nach Australien auswanderte und nicht bloß nach Berlin ginge. Von hier oben sah ihr bisheriges Leben, sahen die Menschen, die es bevölkerten, wie Miniaturen aus – hübsch, farbenfroh, friedlich, harmlos. So unwirklich wie Paul Bremers leuchtend weiße Haare und die roten Wangen des Bassisten. So bilderbuchgemäß wie die geblümte Kittelschürze, die heranschwebte, innehielt, zurückschwebte und haltmachte. Dann senkte sich das Gesicht der Metzgersfrau aus Ebersgrund vor Annes Gesichtsfeld und füllte es aus, so groß und so nah, daß sie die Sommersprossen darin hätte zählen können.
    »Gell, du freust dich?« fragte Herta. Das hatte sie in der letzten halben Stunde schon dreimal gefragt, nicht gezählt die Male, in denen Anne nicht zugehört hatte. Eine Antwort erwartete sie auch diesmal nicht, denn es gab nur eine – glaubte Herta.
    Anne setzte sich auf. Im Moment empfand sie gar nichts – weder Freude noch ihr Gegenteil. Sie blinzelte in den Himmel, der blaßblau über der Krone der alten Kastanie, stand, öffnete die Jacke und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Sie hatte nicht gemerkt, daß der Wind die Wolkendecke zerstreut hatte. Sie hatte den Kuckuck nicht wahrgenommen, der schon seit einer Weile zu rufen schien. Wie lange schon? Und wie oft? Früher hatte davon das Leben abgehangen. Früher verriet der Kuckuck seinen Zuhörern, wie viele Jahre ihnen noch blieben oder wie bald man dem Märchenprinzen begegnete. Als Kind und später als junges Mädchen war sie bei jedem Kuckucksschrei stehengeblieben und hatte gezählt und sich vorsichtshalber schon mal eine Ausrede zurechtgelegt für den Fall, daß er nur zwei- oder dreimal schlug, was fürs Leben zuwenig und für die Ankunft des Märchenprinzen zuviel gewesen wäre. Damals hatte sie aufs ewige Leben und auf die große Liebe gesetzt. Anne seufzte. Der Abschied von solchen Illusionen lag schon eine Weile zurück.
    »Iß! Damit du was auf die Rippen kriegst!« Herta hielt ihr einen bis zum Rand gefüllten Teller vor die Nase. Anne blickte auf. Wie eine Mutter lächelte die Ältere zu ihr hinunter. »Oder willst du die einzige sein, die bei so einem

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