nichts als die wahrheit
gegenüber, die Fäuste geballt.
»Krysztof!« Daß es ihre Aufgabe war, für Ruhe und Frieden zu sorgen, war eine Gewohnheit, die sich nicht so schnell abstellen ließ, wie ihre Tochter vielleicht wünschte. Und den Streit, den sie dort drüben kommen sah, wollte sie um fast jeden Preis vermeiden.
Der polnische Feldarbeiter hatte sich breitbeinig und mit gesenktem Kopf vor Sergej aufgebaut, dem Bruder von Ivanka, einem jungen Russen aus der Siedlung. Es war nicht das erste Mal, daß die beiden sich stritten. Über Politik, worüber sonst. Über die Vergangenheit und den Kommunismus und die NATO und die Zukunft. Als ob es nichts Näherliegendes gäbe, worüber sich zwei ehemalige Bewohner des untergegangenen Ostblocks nach dem Ende von über vierzig Jahren erzwungener Völkerfreundschaft zu streiten hätten …
»Laß mal, Mama!« Rena hielt ihr abwehrend die erhobene Hand entgegen und ging mit geradem Rücken auf die Streithähne zu. Anne ließ sich wieder sinken. Sie hatte hier nichts mehr zu sagen. Daran mußte sie sich langsam gewöhnen.
Sie hatte eine andere Zukunft. Und daß der Gedanke daran sie nicht so fröhlich stimmte, wie sie gern wäre, hing nicht eben wenig mit Peter Zettel zusammen. Irgendwann hatte er damals neben ihr gestanden, sich wie sie mit einer Schulter an die Säule gelehnt und in die Menge gesehen. Die Fraktionssprecherin gab einem glatzköpfigen TV-Gesicht ein Interview und hatte ihre übliche professionelle Kühle gegen eine fast kindliche Freude ausgetauscht – jedenfalls schien sie auf den Fußspitzen zu federn und wischte sich alle naselang imaginäre Haarsträhnen aus dem Gesicht. Für viele ihrer Parteifreunde gingen heute abend Lebensträume in Erfüllung. Für Anne nicht – was eigentlich, bildete sie sich heute wie damals ein, fast gar nichts machte. Sie hatte frühzeitig darauf geachtet, daß die Träume, die sie sich erlaubte, nicht zu viel Platz einnahmen.
»Enttäuscht?« Sie hatte geglaubt, ein kleines ironisches Lächeln in seiner Stimme zu hören, und sich unwirsch zu ihm hingedreht, um ein paar Dinge klarzustellen.
»Ich meine – Sie haben verdammt hart gearbeitet dafür, oder?«
Nicht mehr, als sich gehört, hatte sie antworten wollen. Und daß die bisherigen Hochrechnungen auf ein recht ordentliches Ergebnis schließen ließen. Und daß das amtliche Endergebnis schließlich noch nicht feststehe. Und daß, im großen und ganzen gesehen, der Weg das Ziel sei – oder so ähnlich. Aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt. Was ging ihn das an?
»Ein paar tausend Stimmen mehr, und Sie wären drin gewesen.« Er ließ die Augen dem Pulk der Kameraleute und Pressefotografen folgen, die wieder hinter dem Kandidaten her waren, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, zu einem weiteren der vielen improvisierten Fernsehstudios im Wandelgang außerhalb des Saals. Aber seine rechte Schulter berührte ihre linke. Und sie hatte es zugelassen.
»Sie hätten es verdient gehabt. Nach allem, was passiert ist.«
Was meinte er? Was wußte er? Sie erinnerte sich an das helle Mißtrauen, das damals in ihr emporgeflackert war.
»Die Partei hätte Ihnen einen besseren Listenplatz geben sollen.« Der Kerl ließ sich von seinem Thema nicht abbringen, obwohl ihm aufgefallen sein mußte, daß sie von ihm abgerückt war.
»Die Basis hat anders entschieden«, hatte sie sich kühl sagen hören.
»Die Basis?« Er hatte verächtlich geschnaubt.
»Und außerdem bin ich darüber gar nicht so unglücklich.« Warum glaubte sie eigentlich, sich dem Kerl gegenüber erklären zu müssen?
»Weil sonst womöglich alles wieder hochgekocht wäre? Die Vergangenheit? Der Verrat? Der Tod Ihres Mannes?«
Es hatte sich also herumgesprochen. »Und warum bohren Sie in alten Wunden? Journalistenneugier?« Sie mußte, trotz aller Wut, verletzt geklungen haben.
Er hatte erschrocken gewirkt, »Das wollte ich nicht!« gesagt und ihr die Hand auf den Unterarm gelegt, mit dieser intimen Geste, die gerade Mode war. Ihr war aufgefallen, wie lang und schmal seine Hand wirkte, Musikerfinger, hatte sie gedacht und ihm in die Augen gesehen. Braune Augen. Viel zu braune Augen.
»Ich hätte Sie gern erlebt im Bundestag.« Er guckte so treuherzig, daß sie ihm das fast geglaubt hätte. »Ich kenne den einen oder anderen in Ihrer Fraktion, auf den – oder die – ich gut verzichten könnte.« Die kannte sie auch. »Nur einer weniger, und Sie könnten nachrücken!« Sie mußte gegen ihren Willen lachen. Aus
Weitere Kostenlose Bücher