Nicodemus
bloß noch die Funktionsweise eines solchen Textes abzuleiten, und wie ein Angriffszauber ebendiesen stören könnte.
Nach einer Stunde hatte er einen ersten Entwurf.
Der Zauber selbst stellte sich als weitaus schwieriger heraus. Shannon arbeitete mit Numinus und hielt seine frühen Versuche auf ausgedienten Schriftrollen fest. Die späteren Fassungen schrieb er auf sein bestes Pergament. Bisweilen zitterten ihm vor Aufregung die Hände so sehr, dass es ihm schwerfiel, in einer Zeile zu schreiben.
Nach vier Stunden hatte er eine Arbeitsfassung erstellt. Mit ihrenbeinahe achttausend Zeichen füllte sie vierundzwanzig Seiten seines Forschungstagebuchs. Seine Finger schmerzten von den glatten Runen. Als Erinnerungshilfe fügte er den kniffligen Passagen noch ein paar Erklärungen hinzu.
»Shannon, du bist und bleibst ein Linguist«, gratulierte er sich am Schluss selbst. »Aber du wirst alt.« Er lehnte sich zurück und spürte die schmerzenden Arme und Knie. Einzig das Wissen, mit diesem neuen Zauber den Geist des Verfassers im Tonkörper bannen zu können, hielt ihn noch wach.
Shannon rutschte auf dem Stuhl zurück und nahm das vertraute Quietschen des Holzes wahr. Dann fiel ihm ein, dass er Nicodemus umgehend eine Kopie davon zukommen lassen musste. Sollte er sie nich jetzt gleich zum Speicherturm bringen? Es war von größter Wichtigkeit, dass der Junge diesen Zauber besaß. Doch wie könnte er ihn übermitteln?
Azure stieß einen tiefen, zweistimmigen Pfiff aus. Sofort sandte Shannon ihr eine Frage und erhielt unverzüglich Antwort: Sie hatte ungewöhnliche Geräusche gehört.
Shannon blinzelte nach der Tür. Im Gang zauberte niemand, doch weiter entfernt, vermutlich im Treppenhaus, leuchtete ein zehn Fuß langer goldener Wortschweif. Noch nie zuvor hatte er dergleichen gesehen, es war ein Zug aus einem halben Dutzend Zauberern, die mit Flammenflugparagraphen die dunkle Treppe erleuchteten.
Etwas stimmte hier nicht. Stimmte ganz und gar nicht.
Shannon nahm den Vogel und kommunizierte so mit ihm, dass er mit Hilfe von Azures Augenlicht sehen konnte. Zurück am Schreibtisch starrte er auf den Zauberspruch, den er gerade geschrieben hatte.
Diesen Text musste er dringend an Nicodemus übermitteln, das Leben des Jungen hing davon ab. Der Gedanke, dass Nicodemus in Verbindung zur Prophezeiung stand und sein Überleben für den Kampf gegen die Separatisten und den Fortbestand der menschlichen Sprache überhaupt unentbehrlich war, machte ihm Angst.
Als er aufschaute, sah er schon das Flimmern der herannahenden Flammenflugzauber.
Erneut fasste er seinen Zauberspruch ins Auge. Er war zu lang fürAzure, die Vogeldame würde ihn nicht in ihrem Körper beherbergen können. Und ihm blieb jetzt nicht genügend Zeit, den Zauber auf eine Schriftrolle zu übertragen, so dass sie ihn zum Speicherturm hinüberfliegen könnte. Er benötigte etwas bereits Geschriebenes.
Nachdem er seinen Schreibtisch abgesucht hatte, fiel sein Blick auf vertraute Numinuspassagen. Azure übermittelte ihm das irdische Bild des Manuskripts: Es war die Rolle, die ihm vor nicht einmal eineinhalb Tagen ermöglicht hatte, mit seiner Suche im Index zu beginnen.
Im Flur draußen war gedämpftes Gemurmel zu vernehmen.
Mit zitternden Händen griff Shannon nach dem Tintenfass und einer brauchbaren Feder. Er verfasste nur noch höchst selten weltliche Briefe und mit seinen müden Fingern traute er sich kaum zu, etwas Leserliches zustande zu bringen. So tunkte er das Ende der Feder in die Tinte und malte einen breiten, klebrigen Streifen über das offizielle Erlaubnisschreiben.
Rasch formte er die Numinuszeilen, die das Wehr am Tor des Speicherturms aufheben würden. Er pappte diese ganz zuoberst auf die Schriftrolle, nebst einer Nachricht in einfacher Sprache, die übersetzt » Schlüssel für die Wehre « lauten würde.
Es klopfte an der Tür. »Magister Shannon«, ertönte die Stimme von Amadi.
»Einen Augenblick!«, antwortete Shannon. Er musste Nicodemus noch von dem neuen Zauber in Kenntnis setzen, und zwar bevor die Wächter sich einmischen konnten. Nie würde Amadi es zulassen, dass Nicodemus über einen derart mächtigen Text verfügte.
»Shannon«, rief Amadi, »öffnet die Tür!«
Vor Angst war sein Kopf wie leergefegt. Wie konnte er Nicodemus nur an seinen Gedanken teilhaben lassen?
Plötzlich überfiel ihn eine Idee. Er bildete ein paar Sätze, die übertragen » Forschungs*** « bedeuteten, und klebte sie ebenfalls oben auf die
Weitere Kostenlose Bücher