Alissa 1 - Die erste Wahrheit
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D u warst gestern wieder lange aus«, sagte sie in der morgendlichen Stille. »Ich habe dich nicht hereinkommen hören.«
Alissa zuckte zusammen. Asche, dachte sie. Ihre Mutter hatte sie nicht hereinkommen hören, weil Alissa im Garten eingeschlafen war. Wieder einmal. »Ich habe draußen auf dem Felsen gesessen und die Nacht bewundert«, gestand sie und bemühte sich, das möglichst bedeutungslos klingen zu lassen. »Auf dem großen im Kürbisbeet.«
Ihre Mutter, die vor dem Spülbecken stand, seufzte, blickte aus dem Fenster und fuhr fort, die Kürbiskerne abzuspülen, die sie gestern Abend eingeweicht hatte.
»Ich war nicht allein«, protestierte Alissa schwach. »Kralle war bei mir.«
Die Schultern ihrer Mutter sanken herab, doch sie sagte nichts. Alissa wusste, dass ihre Mutter keine besonders hohe Meinung von Alissas Beziehung zu ihrem einzigen Haustier hatte. Dass Kralle gern nachts flog, machte es nur schlimmer. Buntfalken taten das für gewöhnlich nicht, aber das hatte Kralle wohl niemand gesagt, und Alissa fand, dass man über diese kleine Eigenheit doch leicht hinwegsehen konnte. Sie zumindest tat das.
Alissa presste die Lippen zusammen und kratzte mit dem Messer über geröstetes Brot, um mit stoischer Ergebenheit die verbrannten Stellen zu entfernen. Die Brotscheibe war nur auf einer Seite geröstet. Mindestens die Hälfte davon war noch essbar. Sie blickte auf und sah, wie ihre Mutter bei dem scharfen, wiederholten Kratzen in sich zusammensank. Das Frühstück war eben immer schrecklich. Das Kochen an sich hatte Alissa schon vor Jahren aus reinem Selbstschutz an sich gerissen, doch ihre Mutter weigerte sich, ihr auch das gemeinsame Frühstück zu überlassen.
Ganz gleich, wie lange sie daran herumkratzte, dachte Alissa, es half ohnehin nichts. Verbrannt ist verbrannt. Also schob sie den Teller mit dem krustigen, verkohlten Stück Brot in allzu vertrauter Resignation von sich. Sie streckte sich auf dem Schemel, bis ihre Stiefel den Sonnenstrahl erreichten, der in die Küche fiel. Das Geräusch von tropfendem Wasser klang auf einmal langsamer. Der Schatten ihrer Mutter lag lang gezogen schräg hinter ihr. Alissa runzelte unwillkürlich die Stirn, als sie merkte, dass der Schatten sich nicht mehr bewegte. Sie hob den Blick und richtete sich beunruhigt auf. Ihre Mutter wusch immer noch dieselbe Handvoll Kürbiskerne wie vorhin, als Alissa hereingekommen war. Da stimmte etwas nicht.
»Also, was hast du heute Morgen vor?«, fragte ihre Mutter und hielt den Blick starr auf ihre Finger gerichtet, von denen unbemerkt Wasser tropfte.
»Hm«, brummte Alissa und zwang sich zu einer beiläufigen Antwort. »Das seitliche Gemüsebeet, denke ich. An den Bohnenranken kommt nichts mehr. Ich wollte sie ausräumen und den Rest den Schafen geben. Oh! Da fällt mir noch etwas ein«, platzte sie heraus, froh über schlechte Neuigkeiten, an denen man unmöglich ihr die Schuld geben konnte. »Ich glaube, ein Hund streunt hier herum. Die Schafe sind scheu geworden. Nicht einmal Zicke wollte mich an sich heranlassen.«
»Hm-hm«, kam die geistesabwesende Antwort, die Alissa noch mehr beunruhigte. Ihre Mutter starrte jetzt aus dem Fenster, offenbar in weite Ferne bis ins unsichtbare Tiefland. Das Schweigen wurde allmählich unbehaglich. Alissa sah zu, wie ihre Mutter den Blick von den Hügeln losriss und sich ihrem Haarband zuwandte, das an einem Haken neben dem Küchenbecken hing.
Oh nein!, dachte Alissa erschrocken. Ihre Mutter band sich nur dann das Haar zurück, wenn sie etwas sehr Anstrengendes vorhatte, etwa einen Frühjahrsputz oder eine harte Bestrafung. Und Alissa hatte in letzter Zeit nichts falsch gemacht – glaubte sie zumindest. Alissas Augen weiteten sich, als die Kürbiskerne wieder in den eingeweichten Fruchtfleisch-Matsch fielen, von dem ihre Mutter sie eben erst gereinigt hatte; achtlos rieb sie sich die Hände an ihrem Rock ab. »Tu’s nicht«, hauchte Alissa, doch die Finger ihrer Mutter krümmten sich, streckten sich und erfassten das feine, kupferfarbene Stoffband. Mit plötzlich entschlossenen, abrupten Bewegungen fasste ihre Mutter das lange, dunkle Haar zusammen.
Alissa holte zittrig Luft. Noch war alles halb so schlimm. Wenn ihre Mutter sich das lange Band einmal ums Haar schlang, würde ihr nichts passieren. Einmal war kein Problem, zweimal bedeutete jede Menge Arbeit – dreimal, und Alissa steckte in Schwierigkeiten.
Alissa schluckte schwer, als ihre Mutter es sich
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