Nicodemus
kein Laut zu hören.
Der Junge hatte langes, rabenschwarzes Haar und einen dunklen, olivbraunen Teint. Er mochte ungefähr acht Jahre alt sein und starrte die Frau aus leuchtend grünen Augen an. Es war Erinnerung und Traum zugleich.
Die Frau hieß April und der Junge Nicodemus.
Diese Erinnerung lag weit zurück, damals, als Lord Severn, Nicodemus’Vater, die Zeit für gekommen hielt, seinem Bastard eine Erziehung angedeihen zu lassen.
Vorgeblich hatte der Lord April als Gouvernante ins Haus geholt, doch fast jedermann wusste, dass er sich des Nachts in ihre Kammer schlich.
April war eine liebevolle Lehrerin gewesen, doch hatte es ihr an Entschlossenheit gemangelt. Und nach einem Dutzend vergeblicher Leseversuche ihres Schützlings las sie ihm einfach aus ihren Lieblingsbüchern vor. Als Lornierin hatten es April besonders die romantischen Rittergeschichten angetan. Und nach dem ersten Abenteuer von Maiden und Monstern war auch der junge Nicodemus gefesselt.
Der Traum wurde undeutlich. Das Bild von April und seinem jungen Selbst begann zu flackern. Nun war der Traum-Nicodemus zehn Jahre alt. Er sah sich allein lesend, doch zumeist war er mit April zusammen und bettelte sie an.
Die Erinnerung ergänzte das fehlende Detail. Es war wohl die einzige List ihres Lebens, doch April war Nicodemus’ Begeisterung für Ritterromanzen nicht entgangen, und so las sie ihm immer seltener vor. Gerne hörte sie an der spannendsten Stelle auf, Müdigkeit vortäuschend.
Der junge Nicodemus wollte jedes Mal unbedingt wissen, wie es weiterging, kam aber selbst nur mühsam voran. Dabei wusste er manchmal nicht zwischen den zwiespältigen Gefühlen, die ihm das Lesen bescherte, und der Aufregung, die ihn beim Anblick des Körpers seiner Gouvernante befiel, zu unterscheiden.
Sobald sie seine Fortschritte bemerkt hatte, las April ihm gar nicht mehr vor, versorgte ihn aber beständig mit Büchern. Der Traum handelte von nun an nur noch von einem allein lesenden Nicodemus.
Die Bilder veränderten sich. Wiese und Sonnenschein verschwanden. Ein zehnjähriger Nicodemus lag in seiner kleinen Kammer in Veste Severn. Er las ein Buch mit dem Titel Flammendes Schwert .
Die Kerzen auf dem Nachttisch flackerten, während die Nächte vorbeizogen – es fiel in die Zeit, als er sich in drei qualvollen Monaten das Lesen selbst beigebracht hatte, um herauszufinden, ob es Aelfgar, dem edlen fahrenden Ritter, gelingen würde, sein gebrochenesSchwert Calius mit Hilfe der Feuersteine von Ta’nak wieder zusammenzuschmieden, um die wunderschöne Shahara aus den Fängen des bösen Priesters Zade zu befreien, der den schlangenähnlichen Zadsernak befehligte.
Als er Flammendes Schwert ausgelesen hatte, brach eine laue Nacht an. Mit dem Buch auf der Brust fiel sein junges Selbst in den Schlaf, begleitet von den Rufen einer Rotkehlchenfamilie, die sich unter seinem Fenster eingenistet hatten, und dem sanften Geprassel eines Frühlingsregens.
»Nein«, stöhnte der erwachsene Nicodemus. Er erinnerte sich genau, was in dieser Nacht geschehen war.
»Wach auf!«, brüllte Nicodemus. »Wach auf!«, doch der Junge, der er einmal gewesen war, schlief einfach weiter. Vergeblich versuchte sich der erwachsene Nicodemus zu rühren, aber seine Beine waren wie gelähmt. Das Fenster über dem jungen Nicodemus öffnete sich knarrend.
Dichter, gespenstisch weißer Efeu rankte sich mit rasender Geschwindigkeit um den Fensterrahmen und hatte schon bald das Bett eingeschlossen. Erneut stieß der erwachsene Nicodemus einen gellenden Schrei aus.
Damals hatte es diesen albtraumartigen Efeu nicht gegeben. Doch nun krochen bleiche Tentakel am Bett empor, und binnen kurzer Zeit bedeckten aschfarbene Blätter das schlafende Kind. Alles war in gleißendes Licht getaucht; Flammen schossen empor. Die verzweifelten Todesschreie eines Pferdes drangen zu ihm, krachend barsten die Dachsparren der Kammer. Die Mauern wankten und stürzten mit einem dumpfen Laut ein. So war in dieser Nacht seine Magie erwacht.
Schlagartig hing über Nicodemus nur noch ein viel zu niedriger Himmel, ein Albtraum aus schäumenden, grauen Worten. April stand neben ihm, unversehrt inmitten der Flammen. »Lauf weg, Nicodemus!«, rief sie. »Es hat deinen Schatten!« Dunkelheit umgab sie, verdeckte den bedrohlichen Himmel.
»Kein Ort ist mehr sicher!« Wie Sternenschweife breitete sich ihr Haar auf dem weiten, nächtlichen Himmel aus.
»Wenn du nicht sofort aus Starhaven fliehst, wird das weiße Ungeheuer
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