Nie Wirst Du Entkommen
bückte sie sich langsam und hob das Bild auf, das auf der Fußmatte lag. Entsetzt starrte sie auf die leblose Gestalt, die an einem Seil baumelte, und die Erinnerungen an den Tag, an dem sie sie gefunden hatte, stürmten in ihr Bewusstsein. Melanie hatte am Seil gebaumelt, sich sachte bewegt …
»Du hast mich dazu getrieben«, sagte Melanie, die Stimme nun kalt wie Eis. »Du verdienst dein Leben nicht.«
Die Hände, die das Foto hielten, zitterten heftig. »Das ist wahr«, flüsterte sie.
»Dann komm zu mir, Cyn. Bitte komm.«
Cynthia wich wieder zurück, hinein in die Wohnung, ihre Hand tastete nach dem Telefon. »Ruf Dr. Chick an. Los«, murmelte sie.
Sie wird mir sagen, dass ich nicht wahnsinnig geworden bin.
Aber in diesem Moment klingelte das Telefon, und sie zuckte erschreckt zurück. Starrte auf den Hörer, als sei er ein lebendes Wesen. Als könne er im nächsten Moment zischeln und zubeißen. Aber der Apparat klingelte nur.
»Geh ran, Cynthia«, sagte Melanie ruhig. »Mach schon.«
Mit bebenden Händen griff Cynthia nach dem Telefon. »H-hallo?«
»Cynthia? Hier ist Dr. Ciccotelli.«
Die Erleichterung war so groß, dass Cynthia die Knie nachgaben. Diese feste, vertraute, lebendige Stimme. Cynthia schluchzte auf. »Ich höre sie, Dr. Chick. Melanie. Sie ist hier. Ich höre sie.«
»Natürlich hören Sie sie. Sie ruft Sie zu sich. Und genau das ist es, was Sie verdienen. Gehen Sie zu ihr. Machen Sie dem ein Ende. Jetzt gleich.«
»Aber …« Tränen rannen Cynthia über die Wangen.
»Aber …«
»Tun Sie es, Cynthia. Sie ist tot, und das haben Sie zu verantworten. Gehen Sie zu ihr. Tun Sie, was Sie schon vor Jahren hätten tun müssen. Kümmern Sie sich um sie.«
»Komm zu mir«, befahl Melanie, ihre Stimme nun wieder die einer Erwachsenen. »Komm.«
Cynthia ließ den Hörer fallen und wich zurück.
Ich bin so müde. So furchtbar müde.
»Lass mich schlafen«, flüsterte sie. »Ich möchte nur schlafen.«
»Komm zu mir«, sagte Melanie ebenso leise. »Dann lass ich dich schlafen.«
Das hatte Melanie ihr schon so oft versprochen. In so vielen Nächten. Cynthia wandte sich um und blickte zum Fenster. Hinter der Scheibe lag das Dunkel der Nacht. Und was noch? Schlaf. Frieden.
Frieden.
Das Wohnzimmer war leer. Cynthia Adams war nicht länger in Reichweite der Kamera. Der Bildschirm des Laptops zeigte die panische Frau nicht mehr. Sie würde es tun. Die Spannung stieg. Nach vier Wochen würde Cynthia Adams es nun endlich tun. Nach vier Wochen intensiver »Pflege« stand sie nun am Rand des Wahnsinns. Nur noch ein kleiner Schubs, und sie würde in den Abgrund stürzen. Und das hoffentlich buchstäblich.
»Sie ist am Fenster.« Die Frau auf dem Beifahrersitz war bleich. Ihre Stimme zitterte, als sie das Mikrofon behutsam in den Schoß legte. »Ich kann das nicht mehr.«
»Du machst das, solange ich es dir sage.«
Sie zog den Kopf ein. »Sie will springen. Bitte, ich muss ihr sagen, dass sie das nicht darf.«
Nicht darf?
Das Mädchen war so irre wie Cynthia Adams. »Sag ihr, dass sie kommen soll.« Sie rührte sich nicht. Die Wut kochte augenblicklich hoch. »Sag es ihr, oder dein Bruder stirbt. Du solltest inzwischen wissen, dass ich nicht bluffe. Sag ihr, sie soll kommen, du würdest sie brauchen, sie schulde es dir. Sag ihr, dass alles gut wird, wenn ihr zusammen seid. Mach schon. Und tu es mit Gefühl.« Aber sie regte sich immer noch nicht.
»Mach schon!«
Endlich nahm sie das Mikrofon. »Cyn«, flüsterte sie. »Ich brauche dich. Ich habe Angst.« Und das war die Wahrheit. Nichts steigerte die Dramatik effektiver als die Wirklichkeit. »Bitte, komm.« Ihre Stimme brach. »Dann wird alles wieder gut. Bitte.« Ihr Flüstern wurde flehend.
Der Blick auf Adams’ Fenster vom Fahrersitz aus war großartig. Die Schiebetür glitt langsam zur Seite, und Cynthia Adams erschien. Ihr Nachthemd wehte im kalten Märzwind.
Sie würde eine attraktive Leiche abgeben. Ganz Gloria Swanson.
Boulevard der Dämmerung
… ein toller Film. Heutzutage brachte Hollywood so etwas nicht mehr zustande. Ja, damit würde sich dieses Ereignis wunderbar feiern lassen: Popcorn und ein alter Film. Nur gäbe es nichts zu feiern, wenn Cynthia Adams nur auf dem Balkon herumstand.
Spring schon, du dumme Kuh.
»Sag ihr, dass sie kommen soll. Sie soll springen. Gib alles, Herzchen.«
Sie schluckte bei diesem sarkastischen Kosenamen, gehorchte aber. »Cynthia, nur noch einen Schritt. Einen kleinen Schritt. Ich warte
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