Nie Wirst Du Entkommen
Samstag, 11. März, 23.45 Uhr
C ynthia.«
Es war bloß ein Flüstern, unendlich leise, aber sie hörte es dennoch.
Nein. Cynthia Adams kniff die Augen zusammen und drückte ihren Hinterkopf ins Kissen, dessen Weichheit ihren erstarrten Körper zu verspotten schien. Ihre Finger gruben sich in das Laken und krallten sich so fest in den Stoff, dass es schmerzte. Nicht schon wieder. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, unkontrolliert und verzweifelt. »Geh weg«, flüsterte sie heiser. »Geh weg. Bitte lass mich in Frieden.«
Aber sie wusste, dass sie ins Leere sprach. Wenn sie die Augen öffnete, würde sie nur ins Dunkel ihres Schlafzimmers starren. Hier war niemand. Und dennoch quälte sie das furchtbare Flüstern bereits seit Wochen. Jede Nacht lag sie voller Furcht im Bett und wartete. Wartete auf die Stimme aus ihrem schlimmsten Alptraum. Manchmal hörte sie sie. Manchmal lag sie nur wach, steif wie ein Brett, und wartete. Es war der Wind. Und es waren Schatten. Es war gar nichts.
Aber es war real. Sie wusste es.
»Cynthia? Hilf mir doch!« Die Stimme eines kleinen Mädchens, das mitten in der Nacht Trost brauchte. Ein verängstigtes kleines Mädchen. Ein totes kleines Mädchen.
Sie ist tot. Ich weiß, dass sie tot ist.
Jeden Sonntag legte sie Lilien auf Melanies Grab. Melanie war tot.
Aber sie war trotzdem hier.
Und sie will mich zu sich holen.
Blind griff sie nach der Flasche auf ihrem Nachttisch und schluckte zwei Tabletten.
Geh weg. Bitte geh doch weg.
»Cynthia?« Es war echt. So echt.
Bitte, lieber Gott, hilf mir. Ich verliere den Verstand.
»Warum hast du das getan?« Das Flüstern verebbte, kehrte dann jedoch lauter zurück. »Ich muss es wissen. Warum?«
Warum?
Sie wusste nicht, warum. Verdammt, sie wusste doch nicht, warum. Sie drehte sich auf die Seite, vergrub ihr Gesicht im Kissen und machte sich so klein wie möglich. Hielt den Atem an. Wartete.
Es war still. Melanie war fort. Cynthia holte vorsichtig Atem und fuhr entsetzt hoch, als der Duft in ihre Nase drang. Lilien! »Nein.« Hastig floh sie aus dem Bett und wich zurück, ohne den Blick von dem Kissen nehmen zu können, unter dem die Spitze einer einzelnen Lilie zu sehen war.
»Du hättest dort sein müssen, Cynthia.« Das Flüstern war nun scharf, verbittert. »
Ich
hätte Lilien auf dein Grab legen müssen.«
Cynthia sog bebend die Luft ein. Sie zwang sich zu wiederholen, was die Psychiaterin ihr zu sagen geraten hatte. »Das ist nicht echt. Das ist nicht echt.«
»Es ist echt, Cynthia. Ich bin echt.« Melanie war nicht länger ein Kind, ihre Stimme klang wie die einer verärgerten Erwachsenen. Cynthia schauderte. Melanie hatte ein Recht darauf, wütend zu sein.
Ich bin ein Feigling gewesen.
»Du bist einmal weggelaufen, Cyn. Du hast dich versteckt. Dieses Mal kannst du dich nicht mehr verstecken. Du wirst mich nie wieder im Stich lassen!«
Cynthia wich langsam zurück, bis sie an ihre Zimmertür stieß. Sie schloss die Augen, während sie hinter sich nach dem kalten, tröstenden Griff tastete. »Du bist nicht echt. Du bist nicht echt.«
»Du hättest an meiner Stelle sein sollen. Warum hast du mich verlassen? Wieso hast du mich bei ihm gelassen? Wie konntest du das nur tun? Du hast gesagt, du liebst mich. Aber du hast mich im Stich gelassen. Mit ihm. Du hast mich nie geliebt.« Ein Schluchzen brach durch Melanies Stimme, und in Cynthias Augen brannten Tränen.
»Das ist nicht wahr. Ich habe dich geliebt«, flüsterte sie verzweifelt. »So sehr.«
»Du hast mich nie geliebt.« Melanie war wieder das Kind. Das unschuldige Kind. »Er hat mir wehgetan, Cyn. Und du hast es zugelassen. Du hast zugelassen, dass er mir wehgetan hat … immer wieder. Wieso?«
Cynthia riss die Tür auf und taumelte rückwärts in den Flur, wo eine einzelne Lampe brannte. Sie erstarrte. Noch mehr Lilien. Überall. Sie wandte sich langsam um und starrte fassungslos auf die Blumen. Sie verspotteten sie. Verspotteten ihren Verstand.
»Komm zu mir, Cyn.« Melanies Stimme klang lockend. »Komm. Es ist gar nicht so schlecht hier. Wir können zusammen sein. Du kannst für mich sorgen. Wie du es versprochen hast.«
»Nein.« Sie presste sich die Hände auf die Ohren und rannte zur Tür.
»Nein!«
»Du kannst dich nicht verstecken, Cyn. Komm zu mir. Du willst es doch.« Sie klang jetzt so lieb, so süß. Melanie war so süß gewesen. Damals. Nun war sie tot.
Und ich bin schuld.
Cynthia riss die Wohnungstür auf. Und unterdrückte einen Schrei. Dann
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