Nie Wirst Du Entkommen
Sie war in schwarze Seide und Spitze gekleidet, und er hätte gerne gewusst, ob sie sich extra zu dem Anlass angezogen hatte. Falls ja, war der Effekt durch den Eisendorn zunichte gemacht worden. Die Eingeweide quollen auf den Beton.
Er schluckte. Wer immer das aufwischen musste, würde keinen Spaß haben. Das war das Problem mit Selbstmorden, dachte er bitter. Die Leute verabschiedeten sich mit viel Dramatik, dachten aber nie darüber nach, welche Konsequenzen das für andere hatte. Für die anderen, die sie zurückließen. Für die anderen, die hinter ihnen aufräumen mussten.
Verdammt egoistisch, so ein Selbstmord. Verdammt vermeidbar.
Verdammt noch mal!
Erst jetzt bemerkte er, dass er die Fäuste geballt hatte, und er lockerte sie wieder.
Reiß dich zusammen, Reagan.
Er holte tief Luft, und der metallische Blutgeruch und der Gestank geplatzter Gedärme ließ ihn würgen. Aber er nahm auch einen Hauch Zimt wahr, und einen Sekundenbruchteil danach hörte er hinter sich das Knirschen im Schnee. Sein Partner war da.
»Scheußliche Art, abzutreten«, bemerkte Murphy in seiner typischen, ruhigen Art.
Aidan warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Scheußliche Sache für ihre Angehörigen. Ich kann’s kaum erwarten, sie zu besuchen.«
»Alles der Reihe nach, Aidan«, sagte Murphy. Aber seine Augen waren so freundlich und verständnisvoll, dass Aidan sich wie ein grüner Junge vorkam. »Was wissen wir?«
»Nur, dass sie aus dem zweiundzwanzigsten Stock gesprungen ist. Zwei Zeugen behaupten, sie sei die Brüstung hinauf›geglitten‹, was immer das bedeuten soll. Ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen. Was sie betrifft – sie war jung. Ihre Arme sind recht straff.« Er konzentrierte sich auf die Gliedmaßen, die die einzigen relativ unbeschädigten Körperteile waren. »Ende zwanzig, Anfang dreißig, schätze ich.« Er deutete auf eine Hand, die über einem Bogen des Schmuckzauns hing. »Dicker Klunker an der rechten Hand, keine Anzeichen für einen Ring an der linken, also ist sie vermutlich unverheiratet. Da hatte jedenfalls einer anständig Geld. Dieser Ring da dürfte ein paar Scheinchen kosten. An Armen und Händen sind keine Hinweise auf Gegenwehr zu erkennen.«
Murphy hockte sich neben ihn. »Todschicke Farben.«
Ihre langen Fingernägel waren leuchtend rot lackiert. »Ist mir auch schon aufgefallen. Rot im Kontrast zu schwarzer Seide, macht was her.«
Murphy zuckte die Achseln. »Wäre nicht die erste Selbstmörderin, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen wollte. Und niemand kennt sie?«
Aidan stemmte sich hoch. »Nein. Bleibt zu hoffen, dass die Wohnung, aus der sie gesprungen ist, ihre war. Ich habe einen Durchsuchungsbefehl angefordert, und die Gerichtsmedizin ist auf dem Weg. Komm, reden wir mit den Kids, die …«
»Lassen Sie mich durch.« Eine sanfte Stimme drang zu ihnen herüber – sanft, aber sehr bestimmt.
»Ma’am, ich kann Sie nicht durchlassen. Bleiben Sie bitte hinter der Absperrung.«
Aidan sah auf, als DiBello den Arm hob, um einer Frau in einem dunkelbraunen Wollmantel den Weg zu versperren. Der Wind wehte ihr das dunkle Haar ins Gesicht.
Wieder sprach sie. Ihre Stimme war ruhig und gelassen, klang aber nach Autorität. »Ich bin ihre Ärztin. Und jetzt lassen Sie mich bitte durch, Officer.«
»Tun Sie es«, rief Murphy, und DiBello gehorchte, aber Aidan vertrat ihr rasch den Weg, bevor sie den Tatort kontaminieren konnte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, war aber immer noch nicht groß genug, um über seine Schulter zu blicken. Aidan legte ihr die Hände an die Oberarme und drückte sie sanft zurück, obwohl er spürte, dass sie sich versteifte.
»Ma’am, wir warten auf die Gerichtsmedizin. Sie können im Augenblick nichts tun.«
Sie trat einen Schritt zurück und verharrte reglos. »Sie ist also gesprungen?«
Aidan nickte. »Tut mir leid, Ma’am. Vielleicht können Sie uns sagen …« Doch seine Worte verklangen, als sie sich endlich die Haare aus dem Gesicht schob und er sie augenblicklich erkannte. Erneut brachte der Zorn sein Blut in Wallungen. »Sie sind Ciccotelli!« Dr. Tess Ciccotelli. Diese Frau war keine Ärztin. Sie war ein Seelenklempner. Und als sei das allein nicht schlimm genug, hatte
Miz Chick
auch noch einen Ruf wie Donnerhall.
Nein, sie war nicht einfach eine Wald-und-Wiesen-Psychiaterin für gestörte Geschäftsleute, die gestanden, ihre Mutter zu hassen. Sie war eine Seelenklempnerin, die wochenlange handfeste Polizeiarbeit über
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