Niedergang
zu Louise und sie retten. Und falls er sie nicht bei der Lichtung fand, sondern weiter unten beim See mit dem Restaurant, hätten sie sich immerhin etwas zu erzählen.
Ja, dann hätte er seiner Lou etwas zu erzählen. Hatte er jetzt zu seiner alten Besonnenheit zurückgefunden? Zu seiner Selbstsicherheit? Seiner Stärke? Er wünschte es sich sehr. Durfte man nicht Wünsche haben und hoffen, dass sie in Erfüllung gingen? Wie früher als Kind an Weihnachten?
André stand auf seinem Berg und blickte zur Sonne, diesem Rettungspunkt, der unerreichbar war. Er hatte Kopfschmerzen, wusste nicht, weshalb. Wegen Schlafmangels oder wegen der Höhe, die ihm nicht bekam?
Er wusste: Wie er da stand, erinnerte seine Körperhaltung an jene eines alten, ausgezehrten Männleins, vielleicht eines schwächlichen Bäuerchens hier in der Region, aber auch an jene eines sitzenden, hechelnden Hundes, der einen treuherzig anschaute und nicht wusste, was man von ihm wollte.
Hinunterklettern musste er. Aber davor ängstigte er sich. Lieber blieb er noch ein wenig auf dem Berg. Er musste den richtigen Zeitpunkt abwarten, seine Kräfte sammeln. Seine Kräfte? Hatte er noch welche?
Mit einem Blick– er wusste es–, dem nicht recht zu trauen war, der jeder Frage auswich, schaute er zur Sonne. Sie besaß einen unendlichen Vorrat an Energie, und indem sie ihn anstrahlte, spendete sie ihm welche. Wie einer Pflanze. Er hoffte, dass er so wieder zu Kräften käme, vielleicht sogar ein wenig wüchse wie Gras oder ein Baum. Er fühlte sich wie eine jener Zwergtannen, die sie beim Aufstieg gesehen hatten, diese deformierten Krüppeltännchen, die dem jahrzehntelangen Überlebenskampf trotzten und doch irgendwann eingingen.
Endlich raffte er sich auf. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er Louise retten wollte. Er holte tief Atem, trat vorsichtig mit seinen stumpfen Füßen zur Kletterwand, wagte einen Blick hinunter– unmöglich! Er wich zurück.
Es ging einfach nicht. In der Kletterhalle hätte er nun » Zu! « gerufen, damit Louise das Seil mit beiden Händen festhielt, und dann » Ab! « , und schon hätte er sich dem Boden genähert, sicher wie eine Fracht, die an einem Seil zu Boden gelassen wurde.
Alles spielte sich im Kopf ab, war eine Frage der mentalen Stärke. André wusste das. Er dachte an den österreichischen Extremkletterer, der in jungen Jahren stets ohne Seil geklettert war, eine Art Seilziehen mit dem Tod praktiziert hatte und stets als Sieger hervorgegangen war.
Hatte der junge Österreicher jemals Angst gehabt? Wie war er mit ihr umgegangen, wie hatte er sie bezwungen? War ihm manchmal unheimlich geworden, war er ins Zweifeln gekommen, ob er eine Route schaffte oder in den Tod stürzte? Kletterte er eine solche Route ein zweites Mal?
André dachte nach, aber er fand nicht heraus, wie der Österreicher entschieden hätte. Sein Kopf schmerzte zu sehr. Aber da er beim Aufstieg beinahe abgestürzt und gestorben wäre, diese Route ihm einen Höllenschreck eingejagt hatte, war die Entscheidung, sie nicht noch einmal zu klettern, klug. Er musste auf anderem Weg von dem Gipfel herunterkommen. Vielleicht hätte ihm auch der österreichische Extremkletterer dazu geraten.
Die Beständigkeit der Sonne, die seit Millionen von Jahren in völliger Ruhe und Gelassenheit schien, beeindruckte André. Konnte er nicht werden wie sie? Ein ganz klein wenig? Diese stille Kraft, diese totale Zuverlässigkeit, die der Österreicher besaß, übernehmen? Wenn er ebenso einwandfrei wie die Sonne arbeitete, funktionierte, ohne Fehler, Schäden, Unterbrechungen– dann käme er vom Berg herunter.
Doch er war nur ein Mensch, und er war nicht der junge Österreicher. Er dachte an seine Freundin, seine Liebste, schrie nach Louise. Seine Lou! Der Ruf, der erstaunlich kräftig war, weder ein Fiepen noch ein Krächzen, verhallte halb in der Luft, halb im Gebirge. Ja, er wollte wieder bei Louise, unter Menschen, unter vielen Menschen sein und nicht mehr allein auf dem Berg. Und selbst wenn er der erste Mensch wäre, der diesen Berg bestiegen hätte– er wollte diesen Sieg nicht mehr. Er gäbe ihn zurück und mit ihm sämtliche Medaillen und Trophäen, auch ein allfälliges Preisgeld, wenn er nur wieder unten bei den Menschen, einer von vielen sein konnte.
Allem voran aber wollte er zu seiner Lou. Er brauchte nur hinuntersteigen, den zweifelhaften Olymp verlassen. Doch selbst wenn ihm dies gelänge– wer wäre er, unten angekommen? Wäre er noch
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