Niedergang
der Falle. Wie sollte er die Nacht überleben, ohne Schlafsack, lediglich ausgestattet mit einer Jacke, und falls er sie überlebte, in welchem Zustand wäre er am Morgen?
In diesem Moment fiel ihm auf, dass es nicht kalt, sondern eigentlich zu warm war. Bliebe es so warm, schmolz der Schnee. Oder täuschte er sich? Ein plötzlicher Luftzug überraschte ihn, und einsetzende Böen brachten den Duft nach Regen.
Ein Gewitter war im Anzug, er sah es am Himmel, dessen eine Hälfte noch hell war– ein schwaches Blau, das in einen Sternenhimmel überging–, während die andere dunkel und massig herunterhing, voll schwerer Wolken.
Schon schoss ein Blitz ins Gebirge, zeigte für eine Zehntelsekunde furchtbare Konturen– und in dieser Bergwelt war er gefangen.
Er warf sich in den Schnee, wälzte sich darin, als wolle er sich auf diese Weise eingraben, verschwinden, auf dass der Blitz ihn nicht finde. War er der einzige Mensch auf der Welt, gesucht von dem Blitz? Er war der einzige, keiner war so weit gegangen wie er.
Der Donner krachte über ihm, als wollte er sämtliche Berggipfel zusammenschlagen, kaputtsprengen, dem Erdboden gleichmachen. Er grollte vom Himmel herunter, fuhr an den Gipfeln vorbei, raste durch die Täler, und schon leuchtete wieder diese fratzenhafte Unwelt auf, in der André nicht sterben wollte.
Er hielt das Gesicht in den Schnee, um nichts sehen zu müssen; er blickte zur Seite, die Wange im Schnee, als läge die Pranke eines kräftigen Kerls auf seinem Genick und drückte es zu Boden. Die Zacken der Blitze glichen den kantigen Bergkämmen, Rissen und schmalen Schluchten, in die man nicht fallen durfte.
Wie viele Sekunden vergingen zwischen Blitz und Donner? Bei den Pfadfindern hatte er gelernt: Waren es weniger als drei, lag das Gewitter unmittelbar über einem, drohte große Gefahr. Er wollte zählen, als könnte er sich der Zahlenreihe entlanghangeln, sich davonstehlen, sein Leben in Sicherheit bringen. Und er zählte, aber bald verlor er sich im Zählen. Schon dachte er wieder an sich, an Louise, ihre Trennung.
Inmitten von Blitz und Donner– ihm schien, dass gar eine schwarze Wolke sich auf den Gipfel gelegt hatte, feines Nass stand in der Luft– wurde ihm seine Einsamkeit bewusst. Plötzlich diese Einsamkeit! Noch vor vier Tagen war er ein Mensch unter Menschen gewesen; er kannte viele Leute in Berlin, besaß mehrere Freunde. Von ihnen allen hatte er sich entfernt, sogar von Louise, was ihn am meisten schmerzte. Wie schnell das ging! So plötzlich wie der Schmerz, wenn man sich schnitt– als wäre die Einsamkeit schon immer da gewesen und träte lediglich hinter einem Vorhang hervor wie das Blut, das durch einen Schnitt herausquoll. Dabei hatte er bloß den Alltag abstreifen, die Normalität, das Mittelmaß überwinden wollen, ein echtes Abenteuer bestehen.
Er hatte Louise seine Heimat, seine Kenntnis im Bergwandern zeigen, diese Unternehmung inklusive Kletterpartie abspulen wollen, als seien solche Abenteuer für ihn ein Klacks. Louises Achtung vor ihm sollte steigen, sie sollte in Berlin mit Stolz erzählen, was sie dank ihm erlebt hatte. Er wollte im Mittelpunkt stehen, nicht sein Leben, geschweige denn Louise hinter sich lassen. Nein, er war nicht in den Mittelpunkt gerückt, sondern ins Abseits geraten.
Beinahe fegte der Wind ihn den Berg hinunter, wie ein riesiger Besen, der sauber machte. Der Donner schlug über ihm zusammen, ließ Welt und Wille einstürzen, eine furchtbare Schimpferei, und zwischen all dem der tödliche Blitz, der wie eine Schlange zuckte.
Und niemand war da, der sich um ihn kümmerte, ihn fragte, wie es ihm ging. Gab es denn keinen Menschen mehr auf der Welt, der mit ihm verbunden war? Wenn er sterben würde, wer dachte an ihn, wer schrie, um ihn zurückzuholen?
Fiel Regen, Hagel oder Schnee? Fiel etwas oder fiel nichts? Befand er sich schon im Jenseits? Konnten die zahlreichen Blitze nicht bewirken, dass es Tag wurde? Konnte dieser furchtbare Donner ihn nicht mit einem langen Grollen hinunterbringen, einer fliegenden Eisenbahn gleich? Blitz und Donner, sie waren seine Freunde; er bot beiden die Freundschaft an. Und dem Berggipfel auch, auf dem er bäuchlings lag. Der Berg war sein Bett, der Schnee seine Decke. Niemand tat ihm etwas, da von ihm keine Gefahr ausging; er war in Frieden in die Berge gekommen.
Die Gewalten beruhigten sich. Das Gewitter schien vorbeigezogen zu sein, hatte ihn bloß mahnend gestreift. Und er– er lebte. Lebte er noch? Er ging
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