Niedergang
festgebunden wurden.
Es wurde nicht wirklich als Bestrafung gepflöckt, höchstens halb im Spaß. Die Kinder ließen sich freiwillig pflöcken und wurden wieder losgebunden, wenn ihnen das Liegen an der prallen Sonne zu viel wurde. Für die besonders Hartgesottenen, die ihren eisernen Willen zusätzlich härten wollten, fanden sich Zugaben: mit Grashalmen wurden die nackten Füße gekitzelt; eine Horde Kinder stürzte sich auf den Gepflöckten und somit Wehrlosen und kitzelte ihn am Bauch, an den Beinen eine Handbreit über dem Knie, überall, wo er empfindlich war; dem Gepflöckten wurden die Augen verbunden und im Abstand von einigen Sekunden aus Brusthöhe Wassertropfen auf die Stirn fallen gelassen. Am schlimmsten war, wenn an einem Hitzetag eine schwere, dunkelgrüne Militärblache über den Gepflöckten gelegt wurde; unter ihr stieg die Temperatur rasch an, das Atmen ging nicht mehr gut, ein Gefühl der Beengung, des Erstickens trat ein.
Der Ehrgeiz der Hartgesottenen war, sich selbst zu befreien. Ein Trick bestand darin, für Ablenkung zu sorgen, wenn man festgebunden wurde, und durch Bewegungen zu verhindern, dass der Strick an den Handgelenken gut angezogen wurde; danach konnte man versuchen, mit der Hand herauszuschlüpfen. Manchmal gelang es, aber selbst wenn es gelang, war der Gepflöckte oft kurz vor dem Weinen, zerrieben von falschem Ehrgeiz und der Angst, nicht mehr loszukommen.
Geweint wurde oft. Bei weniger harten Buben, die nur kurz gepflöckt werden sollten, kam es vor, dass man sie einen Moment zu lange gefesselt ließ, sodass sie doch zu weinen anfingen, obwohl das gar nicht beabsichtigt gewesen war, sollten sie doch nur auf eine halbernste Art in die Schranken gewiesen werden.
Einmal lag er unter der Militärblache, an Beinen und Händen so gut festgebunden, dass es kein Entschlüpfen gab, hatte er sich doch freiwillig pflöcken lassen und dem Leiter sogar gesagt, er solle ihn gut festbinden, so lange wie er halte es niemand unter der Blache aus.
Der Schweiß rann ihm die Wangen herunter, der raue Stoff der Blache kratzte an Stirn und Nasenspitze, wenn er den Kopf von der einen zur anderen Seite drehte und nach frischer Luft suchte. Seit Minuten zog er mit Beinen und Armen an den Stricken, versuchte, die Pflöcke zu lockern, aus der Erde zu ziehen. Er wusste, dass es zu schaffen und nur eine Frage der Zeit war. Er blieb ruhig, verfiel nicht in Panik, sondern zog und zog, versuchte geduldig, sie zu lockern, die Löcher in der harten, ausgetrockneten Sommerwiese zu weiten. Doch die dicken Pflöcke, tief mit dem großen Hammer in die Wiese geschlagen, steckten fest, nur jener beim linken Fuß bekam allmählich einen minimalen Spielraum, noch lange nicht genug, um locker oder gar herausgezogen werden zu können. Aber er gab nicht auf, sagte das auch zu dem Leiter, der neben ihm stand, er wolle nicht aufgeben, er werde es schaffen– dann spürte er, sehr zu seinem Ärger!, dass die Stricke losgebunden und er befreit wurde. Wütend war er davongestampft, hatte den Leiter, der versöhnlich lachte, noch böse angesehen und vor sich hin gemurmelt, dass er es auch allein geschafft hätte.
Ähnlich kam er sich jetzt vor. Nicht die lange, eisige Nacht an sich war die furchtbare Folter, sondern die Verlockung des süßen, befreienden Erfrierungstodes im Schlaf. Diese Erbärmlichkeit! Diese Erniedrigung, wenn der Tod wohlwollend die Stricke löste, ihn von dem Überlebenskampf befreite und mitnahm in die selige Ewigkeit.
Nein, diesmal nicht! Auf keinen Fall! Er wollte keine Erlösung, er wollte durch die Folter und überleben. Er durfte nicht einschlafen, gegenüber der einschläfernden Kälte nicht nachgeben. War er schon eingeschlafen? Gehörten diese Überlegungen zu einem Traum, der die Realität nachahmte?
Er dachte an Louise. Sie musste ihm helfen, jetzt. Er begann, mit ihr zu sprechen, zuerst in Gedanken, dann laut. Sprach er laut im Traum? Träumte er, dass die Kälte seine Glieder lähmte, einschläferte? Wütend sprang er auf, sprengte sein kleines Iglu. Er hüpfte, bewegte sich, machte einige Turnübungen.
Jetzt war er aber wach! Er war eingeschlafen gewesen, kurz nur– oder doch lange? Er wusste es nicht. Die Hitze unter der Militärblache, war dies die Wärme gewesen, mit der Erfrierende ins Jenseits gelockt wurden? War er bereits halb ins Jenseits geglitten? Vielleicht. Vielleicht war er kurz davor, vielleicht drüben schon fast angekommen. Vielleicht war er schon tot? Vielleicht…
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