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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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von der Sonne verfärbt, gelb, gab nicht den blauen Himmel frei; im Gegenteil: von oben kam Dunkel, schwerer, stark wasserhaltiger Nebel, vielleicht auch nicht Nebel, sondern eine Wolke. Und die helleren Nebelschwaden zogen talwärts, verformten sich unaufhörlich, als wollten sie Aufmerksamkeit erlangen, ihnen, diesen zwei im Gebirge verlorenen und den Launen des Wetters ausgesetzten Menschen, das Zeichen geben mitzukommen– wie Delfine im Meer den Schiffbrüchigen die Richtung zur rettenden Insel wiesen.
    » Gehen wir weiter? « , fragte Louise, den Berg hinaufblickend, obwohl sie nichts sah als eine niedrige, finstere Decke.
    André bejahte umgehend. Er ging voran, nur halb zufrieden. Er wusste: Louises Aufforderung weiterzugehen war nichts anderes als der versteckte Vorwurf, dass sie das alles nur wegen ihm machte. Immerhin gab sie nicht auf; er konnte auf sie zählen.
    Manchmal hatte ihre Herkunft aus einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern Vorteile. Louise hatte ihm ausgiebig davon erzählt, dass diese Gegend einen schweigsamen, sturen Menschentyp hervorbrachte, der in ihrer Familie zu finden war und zu dem auch sie selbst, ein wenig, gehörte. Man war gewohnt, Probleme, Leiden, Verstimmungen still zu ertragen, hinunterzuschlucken; man sprach nicht miteinander, ging sich stattdessen aus dem Weg, jeder an seine Arbeit, und später war die Meinungsverschiedenheit, oder was immer einen bedrückt hatte, vergessen. Hatte man eine Sache erst einmal in Angriff genommen, zog man sie gegen alle Widerstände durch bis zum bitteren Ende. Wurde einem etwas aufgezwungen, das man nicht wollte, löste man das Problem nicht mit einem Gespräch, sondern nahm die Sache scheinbar hin, sabotierte sie aber immer wieder von Neuem, indem man sich querstellte, nichts davon hören wollte, die Sache ignorierte und stattdessen etwas anderes tat.
    Oft musste er über Louise lachen, und manchmal lachte sie mit. Sie wünschte sich, sie wäre weiblicher, nicht ein so maskuliner Typ, aber ihre schwarzen Haare trug sie kurz, ein bubenhafter Schnitt, der ihre androgyne Erscheinung betonte. Er sagte: » Dann lass doch deine Haare wachsen, kaufe Ohrringe und trage keine Hose, sondern ein Kleid! « – sie wollte nicht. Auf keinen Fall ein Kleid tragen; auf keinen Fall die Haare wachsen lassen. Sie wollte diesen, wie sie glaubte, französischen Schnitt. Seit ihrer Jugend war sie frankophil; sie gab sich sogar einen anderen, französischen Namen. Sie hieß nämlich nicht Louise, sondern Friederike, ein Name, den sie hässlich fand und nicht hören wollte. Alle nannten sie Louise, inzwischen sogar ihre Eltern, nur bei der Arbeit war sie Friederike. Das passte, denn auch ihren Beruf, Tiefbauzeichnerin, mochte sie nicht; ein Männerberuf, für den sie sich schämte. Sie wäre gerne Innenarchitektin geworden, hatte sich aber nicht getraut, es sich nicht zugetraut. Heute bereute sie die eigene Mutlosigkeit von damals.
    » Wir sind so erzogen worden « , sagte sie zu ihm, verbittert, mit Tränen in den Augen und nach vorne hängenden Schultern. » Im Osten hat man, ohne zu maulen, das genommen, was einem angeboten wurde. Man kam nicht auf die Idee, etwas anderes zu verlangen. « Sie sagte, dass Leute, die bloß drei oder vier Jahre jünger als sie waren, mit der Wende und dem westlichen Kapitalismus viel besser zurechtkämen.
    Bis heute sprach sie ungerne von ihrem Beruf, obwohl ihre Stelle so schlecht nicht war und sie ordentlich verdiente. Eine Umschulung wollte sie nicht machen; das Aufbegehren gegen das Schicksal beschränkte sich auf den Namen Louise, den sie sich bereits vor Langem, weit vor ihrer gemeinsamen Zeit gegeben hatte.
    Sie schwärmte von Frankreich, obwohl sie noch nie dort gewesen war. Im vergangenen Sommer schließlich hatte er gesagt, das müsse geändert werden, und sie fuhren für vier Tage nach Paris. Ein wenig war Louise enttäuscht. Nun habe er ihre Sehnsucht zerstört, sagte sie im Spaß, aber auch nicht frei von Ernst.
    André stieg den Zickzack-Pfad weiter hinauf. Dass Louise diejenige gewesen war, die weitergehen wollte, wusste er nun doch zu schätzen; vielleicht begann die Wanderung ihr zu gefallen? Er war darauf bedacht, den Abstand zu ihr nicht zu groß werden zu lassen, als Zeichen der Versöhnung. Er ging langsamer als vorhin, was ihn mehr Kraft kostete. Die Zeitberechnungen, die er in Berlin mit einigem Aufwand gemacht hatte– unter Berücksichtigung des Wetters, der körperlichen Anstrengung, der Möglichkeit,

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