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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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er nochmals zu der Stelle. Am sechsten Tag konnte sich die Gemse nicht mehr erheben, so schwach war sie. Er hoffte schon, dass sie tot war, aber leicht hob sie den Kopf, in keine bestimmte Richtung. Am siebten Tag konnte er kein Lebenszeichen mehr ausmachen. Er blieb den ganzen Tag dort oben. Die Gemse hatte sich entschieden, sie war nicht hinuntergesprungen, und der Putzi hielt Totenwache. Als sie sich gar nicht mehr rührte, war der Putzi sehr wütend. Er war wütend auf die Umstände, aber mehr noch auf sich selbst.
     
    In den nächsten Wochen und Monaten fragte er sich immer und immer wieder, wie er sich selbst in so einer fast aussichtslosen Lage verhalten hätte. Würde er Schluß machen und sich in die Tiefe stürzen? Oder würde er ausharren? Der Putzi wurde sechzehn und zwanzig und fünfundzwanzig, und irgendwann wurde der Drang beim Putzi übermächtig, solch einen Versuch nochmals durchzuführen. Bei einem Menschen.

9
    3. März, Mittenwald. Idee für Iphigenie. Brief an Schiller. Dann merkwürdige Begebenheit, womöglich eine Verwechslung. Hatte mich angekleidet, um etwas in den Mittenwalder Poststuben zu essen, geriet aber versehentlich ins Nebenzimmer und traf dort auf eine Versammlung ernsthaftester Männer, die mich wohl für einen anderen hielten und mir eine Urkunde verliehen. Bin nun – ach! – auch noch Jodelkönig der Gemeinde Mittenwald. Weiterreise nach Italien.
    Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, 1786
    Als er nach Hause kam, warf Johnny Winterholler den Rucksack hastig auf den Boden. Er ging schnell in die Küche, sein erster Blick galt dem Küchentisch. Dort lag das
Große Lexikon des globalen Wissens
. Er hob es hoch, darunter lag ein Bündel Geldscheine. Schön. Der Mann mit den ziellos von Punkt zu Punkt springenden Augen war wieder dagewesen. Auf dem kleinen Zettel, der oben lag, standen Anweisungen für die nächste Tour. Sehr gut, dachte Johnny Winterholler: Hochplatte, Aufstieg über die Ammerwaldalm – endlich mal was in den Ammergauer Alpen, da kann ich beim Rückweg noch im Plansee baden. Er schaltete den Fernsehapparat ein, bald begann das Quiz, inzwischen wollte er noch duschen und etwas Obst einkaufen, bevor der Laden um die Ecke schloss. Doch zuallererst öffnete er ein verschweißtes Päckchen mit sterilen Handschuhen, er streifte sich einen über, nahm erst dann den Packen Fünfzigeuroscheine in die Hand. Er zählte nur flüchtig, die Summe stimmte, wie bisher immer. Wichtiger war, dass er in keine Falle tappte.
    Johnny Winterholler blätterte den Stoß nochmals etwas langsamer durch und las die Nummern der Geldscheine. Sie schienen nicht fortlaufend nummeriert zu sein, sie waren augenscheinlich gebraucht. Er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken, nichts, was auf eine Falle hinwies. Trotzdem. Er wollte vorsichtig sein. Er war es vom Berg her gewohnt, dass jeder Griff hundertprozentig sitzen musste. Also verließ er das Haus und ging zur Gemüsehandlung Altmüller, seinem privaten Geldwäsche-Institut. Das war ein gut laufender Laden, man bekam hier die schmackhaftesten Kartoffeln und die aromatischsten Tomaten im Ort (plus Kochempfehlungen, plus Gesundheitstipps, plus Ratsch), die Warteschlange ging oft bis hinaus auf die Straße. Doch kurz vor halb sieben war kein Kunde mehr im Geschäft. Die freundliche Altmüllerin hatte einen Sohn, der manchmal mithalf. Johnny Winterholler hatte Glück, heute stand nur sie im Laden. Er begrüßte sie und verlangte nach frischem Koriander. Er hatte jedoch nicht vor, heute asiatisch zu kochen, ganz im Gegenteil, er hasste Koriander, aber er wusste, dass sie ihn hinten aus dem Lager holen musste. Als er allein war, schlüpfte er unter der Absperrung durch, hinter die Ladentheke. Er streifte sich Handschuhe über, zog die Schublade auf und nahm so viele Fünfzigeuroscheine heraus, wie er vorfand. Es waren heute siebenundzwanzig. Daraufhin ließ er siebenundzwanzig seiner Euroscheine in die Schublade gleiten. Er hörte Schritte, die Altmüllerin kam zurück, er kaufte anstandshalber noch zwei Äpfel. Er bezahlte mit Münzen. Er war Bergsteiger. Keine Bewegung im Gelände durfte beiläufig sein. Jeder Griff musste sitzen.
     
    Das Quiz begann mit einer Kandidatin, die so nervös war, dass sie bei der zweiten Gewinnstufe schon fast scheiterte. Die dritte und vierte Stufe schaffte sie mit viel Jauch’scher Hilfe, der Unterhaltungswert ging heute gegen null. Johnny Winterholler stellte sich vor, wie er selbst da sitzen

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