Niedertracht. Alpenkrimi
Klamotten.«
»Ein Dreißigjähriger, der so herumläuft?«, fragte Nicole ungläubig.
»Vielleicht trägt er die Ausrüstung seines Vaters auf«, schlug Hölleisen vor.
»Es könnte auch ein Jäger sein«, sagte Jennerwein. »Jäger tragen so etwas. Zur Tarnung.«
»Das könnte sein«, sagte Becker. »Jetzt aber zum Inhalt des Rucksacks. Der ist wesentlich interessanter. Und zwar durch das, was
nicht
drinnen ist. Ich habe Ihnen die Liste der Gegenstände ausdruckt.«
Allgemeines Geraschel. Wegschieben von Tassen und Gläsern. Stifte auf Papier, die etwas unterstreichen. Gemurmeltes Kopfschütteln. Die Liste bestand aus siebenundzwanzig Punkten.
Stofftaschentuch grau
Brotzeitpapier, abgeleckt, Speichelspuren in der Analyse
Blechdöschen Schokolade, leer
Stoß Papierservietten, grau, unbenützt
Wanderkarte
Werdenfelser Land
im Maßstab 1 : 25.000
Ein Joghurtbecher, leer, ohne Deckel, zerbrochen
…
Alle überflogen schweigend die unheimliche Liste. Die Belanglosigkeit der vielen Dinge stand in geschmacklosem Kontrast zu der Tatsache, dass das Opfer seine letzten Lebenstage mit ihnen verbracht hatte.
»Auffällig ist bei dem Krimskrams«, sagte Jennerwein, »dass es lauter Dinge sind, die in Bergnot kaum weiterhelfen. Was meinen Sie, Ostler?«
Ostler nickte.
»Vielleicht hat er ja alle Gegenstände, die ihm weitergeholfen hätten, hinuntergeworfen?«, fragte Maria.
»Die brauchbaren Gegenstände soll er hinuntergeworfen haben?«, fragte Hölleisen zweifelnd. »Einen Schlüssel, mit dem er etwas in die Wand kratzen könnte, die Seile, mit denen er eine weithin sichtbare Flagge basteln könnte? Ich glaube nicht, dass jemand auf all das freiwillig verzichtet. Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
»Ja, der Meinung bin ich auch«, sagte Becker. »Und noch etwas ist mir aufgefallen. In den gerichtsmedizinischen Befunden habe ich gelesen, dass der Tote Brillenträger gewesen sein muss, starker Brillenträger sogar. Wir haben aber keine Brille gefunden, nichts, auch keine Kontaktlinsen.«
»Was ist daran wichtig?«, fragte Nicole.
»Auch mit einer Brille kann man, wenn man in Bergnot ist, Notsignale improvisieren und Lichtzeichen geben«, antwortete Stengele. »Zumindest, wenn die Sonne scheint.«
Jennerwein stand auf und warf die Liste auf den Tisch. »Erste Möglichkeit: Er hat ein paar nützliche Dinge wie Feuerzeug, Signalpistole, Mobiltelefon und so weiter ausprobiert. Das hat nichts gefruchtet, und er hat sie weggeworfen, vielleicht mit der Wut der Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Zweite Möglichkeit: Er hat zufällig überhaupt keine Dinge dabeigehabt, die helfen könnten. Kein Taschenmesser, kein Feuerzeug, keine Gürtelschnalle. Diese Möglichkeit schließe ich aus. Bleibt übrig: die dritte Möglichkeit.«
Allen war die dritte Möglichkeit bewusst. Jemand hatte dem bedauernswerten Bergsteiger alle Gegenstände abgenommen, die weiterhelfen könnten. Und dieser Jemand war der Mörder.
Jennerwein blickte aus dem Fenster und betrachtete die herrliche Aussicht auf der Rückseite des Polizeireviers.
»Jemand kommt in Bergnot, ein anderer sieht das, klettert hin, er nimmt ihm jedoch, anstatt zu helfen, alle brauchbaren Dinge ab, um ihn dem sicheren Verderben auszusetzen. Sehr unwahrscheinlich, aber möglich.«
Jennerwein konnte den Blick nur schwer von dem unverschämt satten Grün dort draußen loslösen. Eine Kaskade fein abgestufter Blautöne prasselte vom wolkenlosen Junihimmel, und Pollenschlieren stiegen auf, wie man sie nur an sehr heißen Tagen sieht. Ein leichter Wind bewegte den blühenden Clematis-Vorhang, der sich an die Hauswand schmiegte und den wohl ein gärtnerisch begabter Kollege dorthin gepflanzt hatte. Ganze Heerscharen von Insekten umschmeichelten ihn. Nicht nur Bienen, Hummeln und Wespen. Auch Fliegen, Mücken und weitere undefinierbare Hautflügler.
Johann Ostler und Ludwig Stengele, die beiden Bergspezialisten, waren jetzt dran. Ostler war sehr stolz darauf, hier gewissermaßen der Fachvorgesetzte zu sein, das konnte jeder sehen.
»Wir erzählen am besten der Reihe nach, was wir beim Klettern gefunden haben«, sagte Stengele und nickte Ostler ermutigend zu.
»Wir haben zunächst die ersten paar Meter Wand unterhalb der Kante untersucht. Es hat nicht lang gedauert, und wir sind fündig geworden. Schon fünf Meter unterhalb der Kante sind Steinausbrüche zu finden, die darauf hindeuten, dass jemand kurz davor die Wand bestiegen hat. Ich habe ein paar Proben
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