Niedertracht. Alpenkrimi
mitgenommen.«
»Woran erkennt man denn frische Steinausbrüche?«
»Die Oberfläche des Kalksteins bekommt im Lauf der Zeit eine bestimmte poröse Struktur. Trifft etwas Hartes auf den Stein, wird die Oberfläche abgeschürft. Die Stelle darunter ist dann noch nicht der Witterung ausgesetzt und als helle Stelle erkennbar. Da in den sechzig Metern von der Stahlbrüstung bis zur Felsnische aber kein Haken geschlagen worden ist, liegt die Vermutung nahe, dass sich jemand direkt an die Stahlbrüstung gehängt hat, um sich abzuseilen.«
»Und es muss ein ziemliches Schwergewicht gewesen sein, nach den Trittspuren zu urteilen«, ergänzte Stengele.
»Das Opfer besteigt also die Wand von unten, von Österreich aus, und kommt in Bergnot. Ein anderer sieht das von oben, seilt sich ab, gibt ihm den Rest.«
»Von oben kann man die Nische aber gar nicht sehen. Er muss das Opfer also von der gegenüberliegenden Seite beobachtet haben.«
»Von welcher gegenüberliegenden Seite? Diese Berge sind zu weit weg. Der Täter müsste also erstens unten im österreichischen Ehrwald gesessen sein und zweitens mit einem riesigen Superteleskop.«
»Andere These«, sagte Jennerwein. »Hans kommt in Bergnot. Er ruft seinen Freund per Mobiltelefon an und bittet ihn um Hilfe. Dieser Freund ist, sagen wir, scharf auf die Frau von Hans, also auf Evi. Er wittert seine Chance. Er seilt sich von oben ab, nimmt dem armen Hans alles, was ihm aus der fatalen Situation wieder heraushelfen könnte, und lässt ihn in der Wand zurück. Er klettert wieder rauf, dort wartet schon Evi. Mit zwei Flugtickets nach Brasilien. Und zwei Liegestuhlreservierungen an der Copacabana.«
»Das ist eine schöne und romantische These«, sagte Stengele bedächtig. »Aber wir haben noch eine weitere Entdeckung gemacht, in der Felsnische selbst. Ich habe sie genau untersucht, trotzdem hätte ich das fast übersehen. In der Decke der Höhle hat jemand gebohrt. Er hat nicht einfach ein Loch reingeschlagen, er hat ein Loch gebohrt und einen Dübel reingegipst. Er wollte ganz sichergehen. Ich schätze, dass die Bohrung ebenfalls nicht älter als zwei Monate ist. An dem Haken, der darin steckt, hing einmal ein Karabiner, darauf deuten die Kratzspuren hin.«
»Einen Karabiner haben wir im Rucksack nicht gefunden«, sagte Becker.
»Das dachten wir uns schon«, sagte Ostler verschmitzt. »Aber
wir
haben ihn gefunden.«
»Unten am Boden?«, fragte Nicole Schwattke.
Ostler konnte sich nicht beherrschen: »Das nennt man in diesem Fall
Wandfuß
.«
»Dann eben Wandfuß. Kommen Sie mir mal hinauf ins Emscherland, Ostler. Da erkläre ich Ihnen auch einiges.«
»Ob Wandfuß oder Boden, der Karabiner wäre in jedem Fall verloren, Nicole. So ein kleines Ding findet man mehrere hundert Meter weiter unten nicht mehr. Das Metallteil schlägt mehrmals auf, wird abgelenkt – der Suchaufwand wäre jedenfalls gigantisch. Nein, wir haben den Karabiner in der Wand gefunden. Zwanzig Meter unterhalb der Nische. Er ist uns deshalb aufgefallen, weil ein Hüftgurt daranhing, und dieser Hüftgurt hat sich an einer Kante in der Wand verfangen. Er hat im Wind geflattert, so ist er uns überhaupt erst aufgefallen.«
»Bravo für Sie beide«, sagte Jennerwein. »Wie sieht der Tathergang Ihrer Meinung nach aus?«
»Das Opfer ist festgebunden worden, konnte sich dann aber befreien. Doch diese Befreiung hat unserem Hans rein gar nichts genützt, auch der Sitzgurt nicht, der hat ihn eher behindert in der engen Höhle. Er wirft ihn hinunter, hofft vielleicht sogar, dass er damit eine Spur setzt. Vergeblich.«
Nicole Schwattke hob die Hand.
»Hat er nicht geschrien?«
»Ja sicher. Aber es ist unmöglich, oben Schreie zu hören«, sagte Stengele. »Es sind zwar immer Leute dort am Aussichtspunkt, aber der Wind pfeift stark und fast pausenlos. Sie waren ja selbst dort. Der Abstand von sechzig Metern ist einfach zu groß, um sich bemerkbar zu machen.«
Kommissar Jennerwein nickte. »Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass das kein Kletterer war, der in Bergnot geraten ist. Ich bin sogar der Meinung, dass dieser Mann vorher noch nie eine Klettertour unternommen hat, darauf deuten mehrere Indizien hin. Das Opfer ist nicht zur Nische geklettert, das Opfer ist dorthin gebracht worden. Von oben abgeseilt, dann angekettet.«
Erst jetzt hörte Maria Schmalfuß auf, ihren Kaffee umzurühren. Der Mann war mitten in einer Felswand ausgesetzt worden.
11
»Jodler«
Begriff aus dem Personalwesen,
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