Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
ausgegangen waren. Er hörte, wie man Blut und Leben gewagt, wie man sein letztes
Scherflein geopfert hatte, um Kriegsschiffe zu bauen, wie kluge Männer alle ihre Kräfte eingesetzt hatten, um diese Schiffe,
die der Schutz des Vaterlandes waren, zu verbessern und zu vervollkommnen. Ein paarmal fehlte nicht viel, daß dem Jungen Tränen
in die Augen traten, wenn er von alledem reden hörte. Und er freute sich, daß er so gut Bescheid darüber erhielt.
Zu allerletzt gingen sie in einen offenen Hof hinaus, wo die Gallionsfiguren von den alten Linienschiffen aufgestellt waren.
Und etwas Merkwürdigeres hatte der Junge noch nie gesehen, denn diese Figuren hatten mächtige, schreckeinflößende Gesichter.
Sie waren groß,dreist und wild, erfüllt von demselben stolzen Geist, der die großen Schiffe ausgerüstet hatte. Sie stammten aus einer andern
Zeit als der seinen. Er fühlte sich so klein ihnen gegenüber.
Aber als sie da hinauskamen, sagte der Bronzemann zu dem hölzernen Mann: »Nehm' Er jetzt den Hut ab, Rosenbom, vor denen,
die hier stehen! Sie sind alle für das Vaterland im Kampf gewesen.«
Und Rosenbom hatte ebenso wie der Bronzemann vergessen, weshalb sie hierhergekommen waren. Ohne sich zu besinnen, nahm er
den Hut ab und rief:
»Ich nehme meinen Hut ab vor dem, der den Hafen auserwählte und die Werft gründete und die Flotte neu erschuf, vor dem König,
der dies alles ins Leben rief!«
»Danke, Rosenbom! Das war gut gesagt. Rosenbom ist ein Ehrenmann. Aber was ist denn das, Rosenbom?«
Denn da stand Niels Holgersen mitten auf Rosenboms kahlem Scheitel. Aber jetzt war er nicht mehr bange; er nahm seine weiße
Mütze ab und rief:
»Hurra! Du sollst leben, Langlippe!«
Der Bronzemann stieß den Stock hart auf die Erde, aber der Junge erfuhr nie, was er zu tun beabsichtigt hatte, denn jetzt
ging die Sonne auf, und im selben Augenblick verschwand sowohl der Bronzemann als auch der hölzerne Mann, als seien sie aus
Nebel geschaffen. Während er noch dastand und ihnen nachstarrte, flogen die wilden Gänse vom Kirchturm aufund schwebten hin und her über der Stadt. Plötzlich erblickten sie Niels Holgersen, und der große weiße Gänserich schoß aus
den Wolken herab und holte ihn.
X. Die Reise nach Öland
Sonntag, den 3. April.
Am nächsten Morgen flogen die wilden Gänse auf eine Schäreninsel hinaus, um zu weiden. Dort trafen sie mit einigen grauen
Gänsen zusammen, die erstaunt waren, sie zu sehen, denn sie wußten sehr wohl, daß ihre Verwandten, die wilden Gänse, es vorziehen,
über das Innere des Landes dahinzufliegen. Als sie schwiegen, sagte eine graue Gans, die so aussah, als wenn sie ebenso alt
und ebenso klug sei wie Akka selber: »Es war ein großes Unglück für euch, daß der Fuchs in seinem eigenen Lande für friedlos
erklärt wurde. Er hält sicher Wort und verfolgt euch bis ganz nach Lappland hinauf. Wäre ich an eurer Stelle, würde ich nicht
nordwärts über Smaaland reisen, sondern lieber den Seeweg über Öland nehmen, damit er die Spur ganz verliert. Um ihn so recht
auf falsche Fährte zu bringen, solltet ihr ein paar Tage auf der Südspitze von Öland bleiben. Da ist Weide genug und Gesellschaft
genug. Ich glaube, ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr dahinüber reist.«
Das war nun wirklich ein kluger Rat, und die wilden Gänse beschlossen, ihn zu befolgen. Sobald sie sichgehörig satt gefressen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Öland. Keine von ihnen war jemals dort gewesen, aber die
graue Gans hatte ihnen Anweisung auf gute Wegweiser gegeben. Sie sollten nur in gerader südlicher Richtung weiter fliegen,
bis sie dem großen Vogelzug begegneten, der an der Küste von Bleking entlang flog. Alle Vögel, die ihre Wohnung an der Nordsee
hatten und sich nun auf dem Wege nach Finnland und Rußland befanden, flogen den Weg, und sie pflegten sich alle im Vorüberfahren
auf Öland niederzulassen, um auszuruhen. Den wilden Gänsen würde es nicht an Wegweisern fehlen.
An diesem Tage war es ganz warm und still wie an einem Sommertage, das beste Wetter für eine Seereise, das man sich denken
konnte. Das einzige Bedenkliche war, daß es nicht ganz klar war, denn der Himmel war grau und bedeckt. Hier und da standen
mächtige Wolkenmassen, die ganz bis zur Meeresfläche herabhingen und die Aussicht verdeckten.
Als die Reisenden über die Schären hinausgekommen waren, lag das Meer so glatt und spiegelklar ausgebreitet da, daß
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