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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selma Lagerloef
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die zahmen Tiere so geradeswegs auf die Raubtiere zukommen sah. Er war schon im Begriff,
     sich ihnen in den Weg zu stellen und ihnen zuzurufen, daß sie innehalten sollten, aber er sah ja ein, daß es in keines Menschen
     Macht stand, die Schritte der Tiere in dieser Nacht zu hemmen, und so verhielt er sich denn ruhig.
    Es war ganz klar, daß die zahmen Tiere sich vor dem ängstigten, dem sie entgegengingen. Sie sahen bange undunglücklich aus. Selbst die Glockenkuh kam mit hängendem Kopf und zögerndem Schritt daher. Die Ziegen hatten weder Lust zum
     Spielen noch zum Bocken. Die Pferde bemühten sich, mutig zu scheinen, aber sie zitterten am ganzen Leibe vor Angst. Am jammervollsten
     aber sah der Hirtenhund aus. Er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.
    Die Glockenkuh führte die Schar bis dicht an den Waldkönig, der auf dem Felsblock oben auf dem Gipfel des Berges stand. Sie
     ging rings um ihn herum, kehrte dann aber um, ohne daß nur eines der wilden Tiere sie angerührt hätte. Auf die gleiche Weise
     wanderte die ganze Herde unangetastet an den wilden Tieren vorüber.
    Und der Propst sah, daß der Waldgeist, als das Vieh an ihm vorüberzog, bald über dem einen, bald über dem andern seine Fackel
     senkte und abwärts kehrte.
    Jedesmal, wenn sich dies wiederholte, stimmten die Raubtiere ein lautes und freudiges Gebrüll an, namentlich wenn sich die
     Fackel über einer Kuh oder sonst einem größeren Tier gesenkt hatte; das Tier aber, das die Fackel über sich herabsinken sah,
     stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als habe man ihm ein Messer in den Leib gepreßt, und die ganze Schar, zu der es
     gehörte, brach gleichfalls in ein Klagegeschrei aus.
    Und plötzlich wurde es dem Propst klar, was er hier sah. Er hatte ja schon davon gehört, daß sich die Tiere in Delsbo in jeder
     Neujahrsnacht auf dem Blacksaasen versammelten, damit der Waldkönig die Haustiere bezeichnete, die im Laufe des Jahres die
     Beute der Raubtiere werden sollten. Er empfand das größte Mitleid mitdem armen Vieh, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, obwohl es ja keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.
    Kaum war die erste Herde abgezogen, als abermals Kuhglocken unten vom Walde her ertönten, und der Viehbestand eines anderen
     Hofes den Berg hinaufgewandert kam. Sie kamen in derselben Ordnung daher wie der erste Zug und gingen auf den Waldkönig zu,
     der strenge und ernsthaft dastand und ein Tier nach dem andern als dem Tode verfallen bezeichnete. Und dieser Herde folgte
     ohne Aufenthalt eine Schar nach der andern. Einige davon waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen
     bestanden, andere nur aus ein paar Ziegen. Diese kamen offenbar aus armen, kleinen Waldhütten, aber zum Waldkönig hin mußten
     sie alle, und er schonte keine von ihnen.
    Der Propst dachte an die Bauern in Delsbo, die ihre Haustiere so lieb hatten. Wenn sie dies nur wüßten, würden sie es sicher
     nicht so weiter gehen lassen,' dachte er. › Sie würden eher ihr eigenes Leben wagen, als ihr Vieh zwischen Bären und Wölfen
     gehen lassen, um sich ihr Todesurteil von dem Waldkönig zu holen.‹
    Die letzte Schar, die daherkam, war das Vieh vom Pfarrhofe. Der Propst konnte schon von weitem die Glocke der Glockenkuh erkennen,
     und das tat das Pferd offenbar ebenfalls. Es zitterte an allen Gliedern und stand in Schweiß gebadet da. ›Ja, jetzt kommt
     also die Reihe an dich an dem Waldkönig vorüberzugehen und dir dein Urteil zu holen,‹ sagte der Propst zu dem Pferde. ›Fürchte
     dich aber nicht! Ich verstehe sehr wohl, warum du michhierhergeführt hast, und ich werde dich nicht im Stich lassen.‹
    Der schöne Viehbestand vom Pfarrhofe kam jetzt in einer langen Reihe aus dem Walde heraus und ging auf den Waldkönig und die
     wilden Tiere zu. Den Beschluß machte das Pferd, das seinen Herrn den Blacksaasen hinaufgetragen hatte. Der Propst stieg nicht
     ab, sondern blieb sitzen und ließ sich von dem Tier zu dem Waldkönig tragen.
    Er hatte weder eine Flinte noch ein Messer, um sich zu verteidigen. Aber er hatte die Agende herausgeholt und drückte sie
     fest gegen seine Brust, als er sich nun auf den Kampf mit dem Zauberer einließ.
    Zu Anfang schien es, als habe niemand ihn bemerkt. Ganz so wie die andere Herde wanderte auch das Vieh vom Pfarrhof an dem
     Waldkönig vorüber. Der Waldkönig ließ die Fackel auf keins der Tiere herabsinken. Erst als das kluge Pferd kam,

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