Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
Rolltreppe hinunter und erreichte gerade, als der Zug einlief, den vollen Bahnsteig.
    Als Kind hatte Richard Alpträume gehabt, in denen er einfach nicht da war. Wieviel Lärm er auch machte, was er auch anstellte, niemand bemerkte ihn.
    So fühlte er sich jetzt, als all die anderen sich vordrängelten; er wurde geschubst und hin- und hergestoßen von Leuten, die einstiegen, und Leuten, die ausstiegen.
    Er hielt dagegen, drängelte und schubste zurück, bis er fast drinnen war – einen Arm hatte er schon im Zug –, als die Türen sich zischend zu schließen begannen. Er zog die Hand zurück, doch sein Mantelärmel blieb stecken.
    Richard hämmerte an die Tür und schrie, in der Hoffnung, der Fahrer würde die Tür zumindest so weit öffnen, daß er seinen Ärmel freibekam. Doch statt dessen setzte sich der Zug in Bewegung, und Richard sah sich gezwungen, schneller und schneller den Bahnsteig entlangzustolpern.
    Er ließ seinen Aktenkoffer auf den Bahnsteig fallen und zerrte verzweifelt mit der freien Hand am Ärmel.
    Der Ärmel riß, und er fiel vornüber, schlug sich die Hand am Bahnsteig auf und zerriß sich die Hose am Knie.
    Schwankend stand er wieder auf, ging dann den Bahnsteig hinunter und holte seinen Aktenkoffer.
    Er schaute seinen zerrissenen Ärmel an, seine aufgeschlagene Hand und seine zerfetzte Hose.
    Dann stieg er erschöpft die Treppen hinauf und verließ die U-Bahn-Haltestelle. Niemand wollte auf dem Weg nach draußen seine Fahrkarte sehen.
    »Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte Richard zu niemandem im besonderen.
    Die Uhr an der Bürowand zeigte 10 Uhr 30.
    Er ließ seinen Aktenkoffer auf seinen Stuhl fallen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht.
    »Ihr werdet nicht glauben, was mir auf dem Weg hierher alles passiert ist«, fuhr er fort. »Es war ein Alptraum.«
    Er sah hinunter auf seinen Schreibtisch. Irgend etwas fehlte. Oder genauer gesagt: Alles fehlte.
    »Wo sind meine Sachen?« fragte er in den Raum hinein, ein bißchen lauter. »Wo sind meine Telefone? Wo sind meine Trolle?«
    Er schaute in die Schreibtischschubladen. Auch sie waren leer: Nicht mal ein Mars-Einwickelpapier oder eine verbogene Büroklammer bezeugten, daß Richard jemals dort gewesen war.
    Sylvia kam auf ihn zu, in ein Gespräch mit zwei ziemlich stämmigen Herrn vertieft. Richard ging ihr entgegen.
    »Sylvia? Was geht hier vor?«
    »Wie bitte?« fragte Sylvia höflich. Sie zeigte den beiden stämmigen Herren den Schreibtisch, den diese, jeder an einem Ende, hochhoben und aus dem Büro zu tragen begannen.
    »Mein Schreibtisch. Wo bringen sie ihn hin?«
    Sylvia starrte ihn leicht irritiert an. »Wie war doch gleich Ihr Name …?«
    Das geht zu weit, dachte Richard. »Richard«, sagte er sarkastisch. »Richard Mayhew.«
    »Hallo«, sagte Sylvia. Dann perlte ihre Aufmerksamkeit an Richard ab wie Wasser an einer eingefetteten Ente, und sie sagte: »Nein! Nicht dahin!« zu den Umzugsleuten, die Richards Schreibtisch davontrugen, und eilte ihnen nach.
    Richard sah zu, wie sie verschwand. Dann ging er durchs Büro, bis er zu Garrys Schreibtisch kam.
    »Garry. Was geht hier vor? Soll das ein Witz sein?«
    Garry sah sich um, als hätte er etwas gehört. Dann schüttelte er den Kopf, nahm den Telefonhörer ab und begann zu wählen.
    Richard knallte seine Hand aufs Telefon, so daß Garry nicht weiterwählen konnte. »Hör mal, das ist nicht lustig, Garry. Ich weiß nicht, was ihr hier alle für ein Spielchen treibt!« Garry sah zu ihm auf. Richard fuhr fort: »Wenn man mich gefeuert hat, dann sag es mir einfach, aber daß ihr alle so tut, als wär’ ich gar nicht da …«
    Und da lächelte Garry und sagte: »Hallo. Ja. Ich bin Garry Perunu. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    »Ich glaube nicht«, sagte Richard kalt, und dann ging er hinaus und ließ seinen Aktenkoffer zurück.
    Richards Büro befand sich im dritten Stock eines großen, alten, ziemlich zugigen Gebäudes in einer Seitenstraße des Strand.
    Jessica arbeitete etwa auf halber Höhe eines großen, gläsernen, verspiegelten Baus in der City of London, fünfzehn Minuten zu Fuß die Straße hoch.
    Richard machte sich auf den Weg.
    Er war in zehn Minuten beim Stockton-Gebäude, ging einfach an den uniformierten Sicherheitsleuten vorbei die im Erdgeschoß Dienst schoben, betrat den Aufzug und fuhr hoch.
    Das Innere des Aufzugs war verspiegelt, und Richard betrachtete sich beim Hochfahren. Seine Krawatte war halb gelöst und hing schief,

Weitere Kostenlose Bücher