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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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umzubringen, und ich glaube nicht, daß das ein Witz war.«
    Einen Moment war es still. Er hoffte, er würde zur Polizei durchgestellt. Nach einer Weile sagte die Stimme: »Notrufzentrale. Hallo? Ist da jemand? Hallo?«
    Und da legte Richard den Hörer auf und ging in sein Schlafzimmer und zog sich an, weil er fror und nackt war und Angst hatte, und weil es sonst eigentlich nichts gab, was er tun konnte.
    Er zog die schwarze Sporttasche unter dem Bett hervor und packte Socken hinein. Unterhosen. Ein paar T-Shirts. Seinen Ausweis. Seine Brieftasche.
    Er trug Jeans, Turnschuhe, einen dicken Pullover.
    Ihm fiel wieder ein, wie das Mädchen, das sich Door nannte, sich von ihm verabschiedet hatte. Wie sie gezögert hatte. Wie sie gesagt hatte, es täte ihr leid …
    »Du hast es gewußt«, sagte er zu der leeren Wohnung. »Du hast gewußt, daß das passieren würde.«
    Er ging in die Küche, nahm etwas Obst aus der Schale und steckte es in die Tasche. Dann zog er den Reißverschluß zu und ging hinaus auf die dunkle Straße.
    Der Geldautomat schluckte seine Karte mit einem Surren. BITTE GEBEN SIE IHRE GEHEIMZAHL EIN, stand auf dem Bildschirm.
    Richard tippte seine Geheimzahl ein.
    Die Schrift verschwand. Dann stand da: BITTE WARTEN SIE.
    Der Bildschirm war leer. Irgendwo in den Tiefen des Geräts grummelte und knurrte es.
    DIESE KARTE IST UNGÜLTIG. BITTE WENDEN SIE SICH AN IHRE BANK.
    Mit einem Schnarren glitt die Karte wieder heraus.
    »Haben Sie etwas Kleingeld?« fragte eine dünne Stimme hinter ihm.
    Richard reichte dem Mann seine Bankkarte.
    »Hier«, sagte er. »Die können Sie behalten. Da sind ungefähr fünfzehnhundert Pfund drauf, wenn Sie es schaffen, da ranzukommen.«
    Der Mann, der groß und dünn war und einen borstigen hellen Bart und Hände voller Straßenschmutz hatte, nahm die Karte, schaute sie an, drehte sie um und sagte trocken: »Danke. Wenn Sie noch sechzig Pence drauflegen, krieg’ ich dafür ’ne schöne Tasse Kaffee.« Er gab Richard seine Karte zurück. Richard nahm seine Tasche. Und dann wandte er sich wieder zu dem Mann um und sagte: »Moment mal. Sie können mich sehen.«
    »Ich hab’ doch Augen im Kopf«, erwiderte der Mann.
    »Sagen Sie mal«, sagte Richard, »haben Sie schon mal was von einem Ort namens ›Wandermarkt‹ gehört? Da muß ich hin. Es gibt da ein Mädchen namens Door …«
    Doch der Mann wich nervös vor Richard zurück.
    »Hören Sie, ich brauche wirklich Hilfe«, sagte Richard. »Bitte!«
    Der Mann starrte ihn an.
    Richard seufzte. »Schon gut«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe.«
    Er wandte sich ab, umklammerte den Griff seiner Tasche mit beiden Händen, so daß sie kaum noch zitterten, und begann, die High Street hinunterzugehen.
    »Hey«, zischte der Mann.
    Richard schaute sich um. Der Mann winkte ihn zu sich. »Kommen Sie, hier runter, aber schnell!«
    Der Mann eilte neben der Straße ein paar Stufen hinunter – Stufen voller Müll, wie sie normalerweise zu verlassenen Souterrainwohnungen hinabführen. Richard stolperte hinter ihm her. Am Fuß der Treppe befand sich eine Tür. Der Mann stieß sie auf, wartete, bis Richard hindurchgegangen war, und schloß die Tür hinter ihnen.
    Sie standen im Dunkeln.
    Ein Kratzen war zu hören und das Geräusch eines aufflammenden Streichholzes. Der Mann hielt das Streichholz an den Docht einer alten Eisenbahnerlampe, der Feuer fing und etwas weniger Licht abgab als vorher das Streichholz, und sie gingen zusammen durch die Finsternis.
    Es roch muffig, nach feuchten, alten Backsteinen, nach Moder und der Dunkelheit.
    »Wo sind wir?« flüsterte Richard.
    Sein Führer bedeutete ihm, er solle still sein.
    Sie kamen zu einer weiteren Tür in einer Wand.
    Der Mann klopfte einen bestimmten Rhythmus an die Tür. Stille.
    Die Tür ging auf.
    Einen Moment lang war Richard von dem plötzlichen Licht geblendet. Er stand in einem riesigen, gewölbten Raum, einem unterirdischen Saal, von Flammen erleuchtet und voller Rauch. Kleine Feuer brannten ringsum an den Wänden. Schattenhafte Menschen standen an den Feuern und rösteten kleine Tiere auf Spießen. Leute huschten von Feuer zu Feuer.
    Es erinnerte ihn an die Hölle. Oder vielmehr daran, wie er sich als Schuljunge die Hölle vorgestellt hatte.
    Der Rauch kratzte in seinem Hals, und er hustete.
    Hundert Augen starrten ihn an. Hundert Augen, starr und unfreundlich.
    Ein Mann trippelte auf ihn zu. Er hatte langes Haar, einen zerrupften Bart, und seine zerlumpte

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