Niemalsland
strategisch wichtigen Punkten seines Schreibtischs Plastiktrolle verteilt. Außerdem stand da ein Foto von Jessica. Heute klebte ein gelber Post-it-Zettel daran.
Es war Freitag nachmittag.
Richard hatte festgestellt, daß Ereignisse Feiglinge waren : Sie traten nicht einzeln auf, sondern in Rudeln, und stürzten alle auf einmal über ihn herein. Zum Beispiel an diesem Freitag. Es war, wie ihm Jessica im letzten Monat mindestens ein Dutzend Mal erklärt hatte, der wichtigste Tag seines Lebens. Natürlich nicht der wichtigste Tag ihres Lebens. Das würde irgendein Tag in der Zukunft sein, wenn sie, woran Richard nicht zweifelte, Premierministerin, Königin oder Gott würde. Doch es war ohne Frage der wichtigste Tag seines Lebens. Und so war es Pech, daß Richard ihn, trotz des Post-it-Zettels zu Hause an seiner Kühlschranktür und trotz des anderen Post-it-Zettels an dem Foto von Jessica auf seinem Schreibtisch, total vergessen hatte.
Außerdem hatte er den Kopf mit dem längst überfälligen Wandsworth-Bericht voll. Richard prüfte eine weitere Zahlenreihe; dann bemerkte er, daß Seite siebzehn verschwunden war, und ließ sie noch mal ausdrucken; kontrollierte noch eine Seite, und er wußte, wenn man ihn nur in Ruhe arbeiten ließe … wenn, Wunder über Wunder, das Telefon nicht klingelte …
Es klingelte. Er schaltete auf Lautsprecher.
»Hallo? Richard? Der Chef möchte wissen, wann er den Bericht bekommt.«
Richard schaute auf seine Armbanduhr. »In fünf Minuten, Sylvia. Ich bin fast fertig. Es fehlt nur noch die Gewinn-und-Verlust-Prognose. «
»Danke, Dick. Ich hol’s mir gleich ab.«
Sylvia war, wie sie gern erklärte, »die persönliche Assistentin des Geschäftsführers«, und sie verbreitete eine Atmosphäre knackig frischer Effizienz.
Er drückte noch einmal auf den Knopf, und das Telefon klingelte sofort wieder.
»Richard«, sagte der Lautsprecher mit Jessicas Stimme, »hier ist Jessica. Du hast es doch nicht vergessen, oder?«
»Vergessen?« Er versuchte sich zu erinnern, was er vergessen haben könnte. Hilfesuchend schaute er Jessicas Foto an und fand die benötigte Hilfe in Form eines gelben Post-it-Zettels, der an ihrer Stirn klebte. »Richard? Nimm den Hörer ab.« Er nahm den Hörer ab und las dabei den Post-it-Zettel. »Tut mir leid, Jess. Nein, ich hab’s nicht vergessen. Heute abend um sieben, im Ma Maison Italiano. Treffen wir uns da?«
»Jessica, Richard. Nicht Jess.« Sie zögerte einen Moment. »Nach allem, was letztesmal passiert ist? Lieber nicht. Du würdest dich sogar in deinem eigenen Garten verlaufen, Richard.«
Richard wollte sie gerade darauf hinweisen, daß schließlich jeder die National Gallery mal mit der National Portrait Gallery hätte verwechseln können und daß es schließlich nicht sie gewesen war, die den ganzen Tag im Regen gestanden hatte (was seiner Meinung nach ein ebenso großes Vergnügen war, wie in einer der beiden Galerien herumzulaufen, bis ihm die Füße wehtaten), doch er besann sich eines Besseren.
»Ich hol’ dich bei dir zu Hause ab«, sagte Jessica. »Wir können zusammen zu Fuß hingehen.«
»Okay, Jess. Jessica – ’tschuldigung.«
»Du hast doch unsere Reservierung bestätigt, oder, Richard?«
»Ja«, log Richard überzeugend. Das andere Telefon auf seinem Schreibtisch hatte begonnen, schrill zu klingeln. »Jessica, hör mal, ich …«
»Gut«, sagte Jessica, und sie unterbrach die Verbindung.
Die größte Summe, die Richard je für etwas ausgegeben hatte, hatte er vor achtzehn Monaten für Jessicas Verlobungsring bezahlt.
Er nahm das andere Telefon ab.
»Hi, Dick«, sagte Garry. »Ich bin’s, Garry.«
Garry saß ein paar Tische von Richard entfernt. Er winkte Richard von seinem leuchtend trollfreien Schreibtisch aus zu. »Bleibt es dabei, daß wir noch einen zusammen trinken? Du hast gesagt, wir könnten die Merstham-Sache noch mal durchgehen.«
»Geh aus der verdammten Leitung, Garry. Natürlich bleibt es dabei.«
Richard legte auf. Am unteren Ende des Post-it-Zettels stand eine Telefonnummer; Richard hatte sich die Notiz vor ein paar Wochen selbst geschrieben. Und er hatte einen Tisch reserviert; da war er fast sicher. Aber er hatte die Reservierung nicht bestätigt. Er hatte es immer vorgehabt, aber es gab so viel zu tun, und Richard wußte, daß der Termin noch lange hin war. Doch Ereignisse treten in Rudeln auf …
Sylvia stand jetzt neben ihm. »Dick? Der Wandsworth-Bericht ?«
»Fast fertig, Sylvia. Eine Sekunde
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