Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
Richard.
    »Ich war Tänzerin«, sagte die alte Frau, und sie torkelte unbeholfen auf dem Gehweg herum und summte tonlos vor sich hin. Dann schaukelte sie hin und her wie ein Kreisel, kurz bevor er zum Stillstand kommt, und hörte schließlich, Richard zugewandt, wieder auf.
    »Streck die Hand aus«, sagte sie ihm, »dann sag’ ich dir die Zukunft voraus.«
    Er gehorchte.
    Sie legte ihre alte Hand in seine und blinzelte ein paarmal, wie eine alte Eule, die eine Maus verschluckt hat und nun Verdauungsbeschwerden bekommt.
    »Du hast einen weiten Weg vor dir …«, sagte sie.
    »London«, sagte Richard.
    »Nicht nur London…« Sie zögerte. »Nicht das London, das ich kenne.«
    Es begann zu regnen.
    »Tut mir leid«, sagte die alte Frau. »Mit Türen fängt es an.«
    »Türen?«
    Sie nickte. Der Regen wurde stärker. »Ich an deiner Stelle würde auf Türen achten.«
    Richard stand ein wenig schwankend auf. »Ist gut«, sagte er, etwas unsicher, wie man mit einer solchen Information umzugehen habe. »Mach’ ich. Danke.«
    Die Tür des Pubs ging auf, und Licht und Lärm schwappten auf die Straße.
    »Richard? Alles in Ordnung?«
    »Ja, mir geht’s gut. Bin gleich wieder da.«
    Die alte Dame wackelte schon wieder die Straße hinunter. Sie wurde naß.
    Richard hatte das Gefühl, er müsse etwas für sie tun: Geld konnte er ihr jedoch keins geben. Er eilte ihr nach. »Hier!« sagte er. Er fingerte an dem Schirm herum, um den Knopf zum Öffnen zu finden. Dann ein Klick, und der Regenschirm erblühte zu einem riesigen U-Bahn-Plan.
    Die alte Frau nahm ihn entgegen. Sie nickte.
    »Du hast ein gutes Herz. Manchmal reicht das, um einen zu beschützen, wo man auch hingeht.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber meistens nicht.«
    Ein Windstoß drohte ihr den Schirm zu entreißen, doch sie hielt ihn fest. Sie schlang ihre Arme darum. Dann ging sie in den Regen und die Nacht hinaus, eine weiße Gestalt, bedeckt mit den Namen von U-Bahnhöfen: Earl’s Court, Marble Arch, Blackfriars, White City, Victoria, Angel, Oxford Circus …
    Richard ertappte sich dabei, wie er in seinem Suff darüber nachdachte, ob es am Oxford Circus wohl wirklich einen Zirkus gab: einen echten Zirkus mit Clowns und schönen Frauen und gefährlichen Tieren.
    Die Tür des Pubs öffnete sich: ein Lärmschwall, als sei drinnen gerade die Lautstärke aufgedreht worden.
    »Richard, du Wichser, das ist deine Scheißparty, und du verpaßt alles.«
    Er ging zurück in den Pub. Der Drang, sich zu übergeben, hatte sich in Anbetracht der seltsamen Begegnung verflüchtigt.
    »Du siehst aus wie eine ersoffene Ratte«, sagte jemand.
    »Du hast doch noch nie eine ersoffene Ratte gesehen«, erwiderte Richard.
    Jemand anders reichte ihm einen großen Whisky. »Hier, runter damit. In London kriegst du nämlich keinen echten Scotch.«
    »Doch, bestimmt«, seufzte Richard. Wasser tropfte ihm aus den Haaren in den Drink. »In London gibt es alles.«
    Und er stürzte den Scotch hinunter, und dann noch einen, und dann verschwamm der Abend und zersplitterte in Bruchstücke; und hinterher erinnerte er sich nur noch an das Gefühl, daß er etwas, das Sinn machte, für etwas Riesengroßes und Altes verließ, das keinen Sinn machte, und daran, daß er endlos lange in einen Rinnstein voller Regenwasser kotzte, irgendwo kurz vor Morgengrauen, und daran, wie eine weiße Gestalt, eine Art kleiner, runder Käfer, sich im Regen von ihm entfernte.
    Am nächsten Morgen stieg Richard in den Zug nach London, Euston. Seine Mutter gab ihm einen kleinen Kuchen mit, den sie für die Reise gebacken hatte, und eine Thermosflasche voll Tee; und Richard Mayhew fuhr nach London und fühlte sich grauenhaft.

Noch ein Prolog

Vierhundert Jahre früher
    Es war Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, und es regnete in der Toskana: ein kalter, gemeiner Regen, der die Welt grau färbte.
    Ein Schmutzfleck schwarzen Qualms stieg von dem kleinen Kloster auf dem Berg in den frühmorgendlichen Himmel auf.
    Zwei Männer saßen auf dem Berg und sahen zu, wie das Gebäude zu brennen anfing.
    »Das, Mister Vandemar«, sagte der kleinere von beiden und deutete mit einer schmierigen Hand auf den Qualm, »wird eine ausgemacht feine Konflagration, wenn es erst mal richtig zu konflagrieren anfängt. Obwohl ich mich als wahrheitsliebendes Individuum genötigt sehe, Zweifel daran zu äußern, daß noch irgendeiner der Bewohner in der Lage sein wird, dies voll und ganz zu würdigen.«
    »Weil sie dann tot sind, meinen Sie,

Weitere Kostenlose Bücher