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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Lila hatte es gern, wenn alles nach bestimmten Mustern ablief, und sie hasste es, schmutzig zu sein. An diesem Tag hatte sie sich nach einem Waschsalon umgesehen, aber keinen finden können. Sie schliefen in einem Zimmer mit zwölf Stockbetten, Frauen und Männer zusammen. Mitten in der Nacht wachte Lila auf und merkte, dass Sie nicht in Ihrem Bett lagen. Sie dachte, Sie müssten wohl auf der Toilette sein, aber als Sie nach ein paar Minuten nicht zurückgekommen waren, machte sie sich Sorgen. Sie kletterte von ihrem Bett herunter und ging Sie in den Waschräumen suchen. Dort waren Sie nicht. Dann wanderte sie die Flure auf und ab und rief leise nach Ihnen. Einige der Zimmer waren privat und die Türen zu. Als sie sich langsam ernsthaft Sorgen machte, horchte sie an diesen Türen. Dann hörte sie ein Klopfen von unten. Beunruhigt lief sie die dunkle Treppe hinunter in den Keller. Dort standen Sie im trüben Schein einer einzelnen Glühbirne über eine alte, handbetriebene Waschmaschine gebeugt. Sie fragte, was Sie dort machten. ›Wonach sieht es denn aus?‹, sagten Sie lächelnd. Woran Lila sich aus dieser Nacht noch erinnerte, war, dass Sie dort unten in dem kalten Keller mitten in der Nacht beim Wäschewaschen tatsächlich glücklich aussahen. Und gleichzeitig wusste sie, dass es Ihnen nichts ausgemacht hätte, noch ein oder zwei Wochen länger schmutzige Sachen zu tragen. Sie taten es für sie.«
    »Das hat sie gesagt?« Ich hatte eine vage Erinnerung an ein Hostel in Venedig. Aber von dem mitternächtlichen Ausflug in den Keller zum Wäschewaschen wusste ich nichts mehr. Es erstaunte mich, dass Lila sich daran erinnerte und dass es ihr so viel bedeutet hatte.

    »Ja. Auf die Frage nach dem schönsten Moment ihres Lebens antwortete sie mit dieser Geschichte.«
    »Aber das war doch nichts«, sagte ich.
    »Für Lila schon.«
    »Danke, dass Sie mir das erzählen.«
    Ich hörte Schritte auf der Veranda und sah aus dem Fenster. Ein Junge ließ ein kleines Bündel neben der Tür fallen und strampelte dann auf seinem alten Fahrrad mit quietschenden Reifen davon.
    »Das war Pedro«, erklärte McConnell. »Er bringt mir jeden Monat Bleistifte.«
    »Noch eine Frage«, sagte ich, als das Kreischen von Pedros Fahrrad immer leiser wurde.
    »Ja?« Er strich den Kissenbezug am Kopfende des Bettes glatt. Mein Blick folgte seiner Hand, der sanften Bewegung der langen Finger auf dem weißen Stoff. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich in eine andere Zeit an einen anderen Ort versetzt, und als dürfte ich einen seiner persönlichsten Momente miterleben - McConnell in dem Hotelzimmer in Half Moon Bay, wie er mit der Hand über Lilas Kissen strich, nachdem sie gegangen war, sich den Abdruck ihres Kopfes auf dem Stoff einprägte.
    Seine Stimme holte mich zurück. »Ellie? Wo sind Sie denn?«
    Ich begegnete seinem Blick wieder. »Tut mir leid. Ich habe an etwas anderes …«
    »Genau das hat Ihre Schwester immer gemacht. Einfach mitten in einer Unterhaltung abschweifen. Anfangs war ich gekränkt, bis sie es mir erklärte …«
    »Als träte sie in ein anderes Zimmer«, sagte ich, »und wäre so auf die Dinge in diesem Zimmer konzentriert, dass die Tür hinter ihr zufällt. Man musste sie körperlich berühren, um sie dort wieder herauszuholen.«

    »Ganz genau. Sobald ich ihre Schulter anfasste oder ihre Hand nahm, kam sie sofort zu mir zurück und erklärte mir beeindruckend anschaulich, was gerade ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Jedes Mal bekam ich den Eindruck, ich hätte gerade einen merkwürdigen Zaubertrick vollführt, als reichte meine Berührung aus, um sie aus einer anderen Welt zurückzuführen. Komisch, ich hatte immer angenommen, dass ich der Einzige wäre, der das konnte.« Er schwieg kurz. »Sie wollten mich etwas fragen?«
    »Warum haben Sie mir das Notizbuch zurückgegeben?«
    »Ich kenne jede einzelne Seite darin auswendig, ich brauche den tatsächlichen Gegenstand nicht, weil jede Ziffer, jede Randnotiz in meinem Kopf gespeichert ist. Abgesehen davon war ich der Ansicht, Sie sollten es haben.«
    »Ich dachte, es würde mir irgendeinen Hinweis geben«, sagte ich. »Ich dachte, auf diesen Seiten fände sich ein Schlüssel, der das Geheimnis enthüllen würde, was mit Lila geschehen ist. Ich war enttäuscht, als ich ihn nicht fand.«
    »Sie sind wieder hier, weil Sie immer noch nicht sicher sind, oder? Sie sind nach Hause gefahren, haben nach Antworten gesucht und sie nicht gefunden. Aber ich habe Ihnen

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