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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ich, du wärest sie. Und einen winzigen Moment lang hatte ich so ein Bild im Kopf, als ob alles sich zusammenfügte, mein ganzes Leben sich neu einrichtete, als wären die vergangenen Jahre nur ein Traum gewesen.«
    Noch ein wenig länger standen wir schweigend dort, dann sagte ich: »Ich sollte jetzt gehen. Ich muss heute Nachmittag auf eine Plantage fahren.«
    »Warte. Du kannst nicht so in den Regen rausgehen.«
    Er ging ins Haus und kam kurz danach mit einem weißen Poncho wieder heraus, genau wie der, den er auf dem Foto trug, das ich in Carrolls Büro gesehen hatte. Er zog ihn mir über den Kopf, er reichte mir bis zu den Knöcheln hinunter. »Jetzt siehst du aus wie ein Geist«, sagte er lächelnd.
    Wir umarmten uns - eine richtige Umarmung dieses Mal -, und ich atmete den Bleistift-Regen-Geruch seiner Haut ein. Dann dankte ich ihm und trat in den Wolkenbruch hinaus. Bedächtig folgte ich dem Pfad der Steinplatten, 12-9-12-1- 12-9-12-1, von seiner Veranda über den vom Regen aufgeweichten Vorplatz. Als ich an der Straße ankam, rief er mir zu: »Warte noch!«
    Er huschte ins Haus. Wenige Minuten später kam er wieder heraus und stapfte über die nassen Platten. Sein Hemd und die Hose waren sofort völlig durchnässt und schmiegten sich an seinen Körper. Die Haare klebten ihm am Kopf. Er gab
mir ein dickes Päckchen, das in mehrere Schichten Plastiktüten gewickelt war.
    »Was ist das?«
    Der Regen hörte genauso unvermittelt auf, wie er begonnen hatte. Aus den Tüten zog ich einen großen braunen Umschlag hervor. Darin befand sich ein Bündel Zettel, fünf Zentimeter dick, vollgeschrieben mit Zahlen und Symbolen.

40
    DAS NEUE CAFÉ lag auf der Twenty-first Street zwischen Mission und Valencia Street, geschmiegt an ein Antiquariat auf der einen und eine Kleiderboutique auf der anderen Seite. Als ich um drei Uhr nachmittags ankam, machte sich die Nachbarschaft gerade bereit für eine Día de los Muertos -Prozession. Ich kam um die Ecke und sah Henry weiter unten auf der Straße auf einer Leiter vor seinem Café stehen. Beim Näherkommen erkannte ich, dass er einen Pinsel in der Hand hielt und einen Fleck auf dem Schild über der Ladenfront ausbesserte. Die Schrift war blassgrün und in Kleinbuchstaben.
    »Toller Name«, sagte ich.
    »Gefällt er dir?«
    »Shade«, las ich. »Perfekt.«
    »Ich würde dich umarmen, aber ich bin überall voller Farbe und Sägemehl.«
    »Alles bereit für den Eröffnungstag?«
    »Langsam, aber sicher. Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?«
    »Immer.«
    Im Inneren präsentierte er mir stolz die wunderschöne Chrom-Espressomaschine und den antiken Röstapparat. Eine Serie gerahmter Fotos zeigte die Kaffeebauern, deren Genossenschaften die Bohnen für das Café liefern würden.

    »Alles ist recycelt oder gebraucht«, erzählte Henry begeistert. »Das sind die Original-Lampenfassungen aus dem Coronet-Kino. Die Theke und die Tische sind aus dem Mammutholz eines alten Doelger-Hauses, das letztes Jahr in Sunset abgerissen wurde. Die Stühle stammen aus der ehemaligen Münzprägeanstalt.«
    »Es sieht großartig aus.« Ich zog eine kleine Papiertüte aus meiner Handtasche. »Hier, ich hab dir etwas mitgebracht. Eine neue Mischung von Jesus.«
    Er öffnete die Tüte und schnüffelte. »Mmm, Schokolade und geröstete Haselnuss.«
    »Warte, bis du ihn probiert hast«, sagte ich. »Cayennepfeffer und Zitrus. Eine zarte Bourbonvanille-Note im Abgang. Ich finde, das sollte dein Hauskaffee werden.«
    Er ging hinter die Theke und füllte die Bohnen in die Mühle. Das Geräusch der Maschine war eine willkommene Abwechslung. Ich hatte Henry seit unserer abrupt abgebrochenen Unterhaltung im Verkostungsraum von Golden Gate Coffee fünf- oder sechsmal getroffen, aber jedes Mal waren andere Leute um uns herum gewesen. »Ich weiß nicht, ob Mike es dir schon erzählt hat«, sagte er, »aber ich habe darauf bestanden, dass du mich als Kunden betreust. Niemand sonst.«
    Ich nickte.
    »Wie war Nicaragua?«
    »Wirklich gut. Ich hätte dich gebeten, mitzukommen, aber …«
    Er stand da mit den Händen in den Taschen. Er wirkte müde. Als er lächelte, fiel mir auf, dass sich um seine Augen herum Krähenfüße gebildet hatten. Damals bei unserer ersten Begegnung hatte er so jung ausgesehen. Er war jung gewesen , erinnerte ich mich; genau wie ich.

    »Komisch«, sagte er, »als Mike vorschlug, ich sollte dich begleiten, hatte ich sofort das komplette Bild in meinem Kopf, wie alles sein würde - du und ich

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