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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Kaffee, der sanfte Duft von Maismehl. Doch in jener Nacht war es dunkel in dem Raum gewesen, nur Kerzen hatten ihn erleuchtet. Jetzt strömte Tageslicht durch die Fenster und bestrahlte die erstaunt blickenden Gesichter von Marias Porzellanpuppen. Der rote Vorhang zur Küche war beiseitegezogen, und ich konnte Marias in Sonnenschein getauchten Herd sehen.
    »Was gibt es heute?«
    » Nacatamal «, sagte sie. » Está usted sola? «
    » Sí, señora . Ich bin allein.«
    Sie schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf ihr Herz, als schmerzte es sie, mich erneut in diesem Zustand zurückkehren zu sehen. Ich setzte mich an meinen üblichen Tisch. Kurz darauf brachte sie mir Kaffee und verschwand dann wieder in der Küche. Ich holte Lilas Notizbuch aus meiner Tasche.
    Ich hatte das Heft schon so oft durchgelesen, doch jedes Mal bot es eine neue Überraschung. Dieses Mal war es eine winzige Textzeile, die ungefähr auf der Hälfte des Buchs so weit innen in den Knick geschrieben worden war, dass ich es mit Gewalt aufdrücken musste, um die Worte entziffern zu können. Eine Gleichung hat für mich keinen Sinn, wenn sie nicht einen göttlichen Gedanken zum Ausdruck bringt.
    Maria servierte mir das nacatamal , das wie immer köstlich war. Als sie kam, um meinen Teller abzuräumen, fragte ich sie in meinem unbeholfenen Spanisch nach dem Herrn, den ich vor drei Monaten in ihrem Restaurant kennengelernt hatte.
    » Ah, sí, Señor Peter! «, sagte sie.
    » Sí. Dónde vive? «
    Sie ging in die Küche und kam mit Stift und einem Stück Papier zurück, auf das sie eine Karte zeichnete. » Estamos
aquí .« Sie zeigte auf ein kleines Kästchen, vor dem eine Strichmännchen-Frau stand. Dann malte sie einen Kreis um ein weiteres Kästchen, das mit dem ersten über eine Abfolge gewundener Straßen verbunden war.
    »Danke.«
    Lachend gestikulierte sie mit den Händen, als wollte sie mich aus der Tür scheuchen. » Señor McConnell, él es muy guapo! «
    »Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei.
    Auf dem Weg nach draußen blieb ich kurz stehen, um eine Venusfliegenfalle auf der Fensterbank zu inspizieren. Ihre blassgrünen Blätter waren geöffnet, in der Mitte gespalten wie eine Frucht. Eine Fliege schwirrte nur wenige Zentimeter über der Pflanze herum. Endlich landete das Insekt auf den Borsten. Das Blatt schnappte zu. Ich fragte mich, ob Lila jemals eine Venusfliegenfalle gesehen hatte. Ich glaubte mich zu erinnern, dass in unserer Grundschule eine im Klassenzimmer gestanden hatte, war mir aber nicht sicher. Das war eine Angewohnheit, die ich selbst jetzt noch nicht ganz ablegen konnte - wenn ich etwas Neues sah oder erlebte, überlegte ich oft, ob Lila wohl ebenfalls eine Gelegenheit gehabt hatte, es zu sehen. Manchmal kam es mir vor, als erlebte ich alles Neue zweimal: einmal für mich und einmal für sie. Im Laufe der Jahre ging diese Empfindung exponentiell zurück. Es gibt nur so und so viele neue Dinge auf der Welt, und je älter man wird, desto schwerer sind sie zu finden.
    Trotz des Gewirrs von Gassen in Diriomo, die sich auf undurchschaubare Weise umeinander wanden, erwies sich Marias Karte als ausgezeichnet. Ich markierte sie unterwegs mit meinem Stift, zeichnete Orientierungspunkte ein - einen Briefkasten, einen an einen Pfosten gebundenen Esel, eine
alte Reifenschaukel an einem Baum -, damit ich später meinen Weg zurück fände.
    Nach einer halben Stunde gelangte ich zu einem weißen Haus am Ende einer verlassenen Straße. Von außen sah es aus, als könnte es nicht mehr als zwei Räume enthalten. Hinter dem Haus und zu beiden Seiten lag Wald. Der Platz vor dem Haus sah ordentlich aus, mit verstreut darauf wachsenden Bananenstauden und stacheligen Blattpflanzen. Eine Reihe von runden Steinplatten, jede davon mit einer Nummer beschriftet - 12-9-12-1-12-9-12-1 - führte von der ungeteerten Straße zur betonierten Veranda. Ich hatte gerade meine Hand gehoben, um anzuklopfen, als ich eine Stimme hinter mir hörte.
    »Ellie?«
    Ich drehte mich um. Da stand Peter in einem schweißnassen Hemd und mit zwei großen, bis knapp zum Rand mit Wasser gefüllten Metalleimern in den Händen. Er lief über den Steinpfad und stellte die Eimer auf der Veranda ab. »Brunnenwasser«, sagte er schwer atmend. »Als ich hierherzog, dachte ich, ich würde nicht lange durchhalten. Ein Leben ohne fließendes Wasser konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Aber man gewöhnt sich daran. Es hat etwas Befriedigendes, nur genau so viel zu verwenden, wie

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