Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
betriebenen Frisiersalon, ihren Beruf ausüben. Als ob das ein Trost für sie gewesen wäre!
So war sie weiter sehr bedrückt und träumte von Paris. Uns Kindern erzählte sie von ihren Spaziergängen auf den Champs-Élysées und wie sie sich mit ihren Freundinnen auf den Caféterrassen zum Tee getroffen hatte, von den Freiheiten, die die Französinnen genossen, der sozialen Absicherung, den gewerkschaftlichen Rechten, den Kühnheiten der Presse. Paris, Paris, Paris ... Am Ende ging sie uns auf den Wecker damit. Mein Vater aber fühlte sich schuldig. So plante er, ein kleines Geschäft in Paris aufzuziehen, ein Restaurant im 15. Arrondissement, das Mama hätte führen können. Aber leider überwarf er sich bald mit seinem Kompagnon, und der Plan fiel ins Wasser. Beinahe hätte er auch eine Wohnung an der Défense gekauft, die kostete 25 000 Dollar. Er hat es damals nicht gewagt, und heute bedauert er es.Meine ersten Erinnerungen an die Schulzeit sind also mit Bengasi verbunden. Sie sind schon ein bisschen verschwommen, aber ich weiß noch, dass es sehr lustig war. Die Schule nannte sich »Die kleinen Löwen der Revolution«, und wir waren dort fünf unzertrennliche Freundinnen. Ich galt als der Clown in der Gruppe, und meine Spezialität war es, die Lehrer nachzuäffen, sobald sie die Klasse verlassen hatten, oder auch den Schuldirektor. Ich glaube, ich habe ein gewisses Talent, die besonderen Allüren und die Mimik eines Menschen zu erfassen. Wir lachten jedenfalls alle Tränen. Ich war schlecht in Mathe, aber in Arabisch die Beste.
Papa verdiente nicht viel. Und so wurde Mamas Arbeit unerlässlich. Auf ihren Schultern ruhte sogar bald das gesamte Einkommen der Familie. Sie ackerte Tag und Nacht und hoffte noch immer, irgendetwas möchte geschehen, das uns aus Libyen herausbrächte. Ich wusste, dass sie anders war als die anderen Mütter, und manchmal nannte man mich verächtlich die »Tochter der Tunesierin«. Das kränkte mich. Die Tunesierinnen galten als modern, emanzipiert, und in Bengasi, glauben Sie mir, waren das nicht gerade Vorzüge. Dumm, wie ich war, hat mich das sehr geärgert. Fast habe ich es meinem Vater verübelt, dass er kein Mädchen aus unserem Land zur Frau genommen hatte. Wozu musste er eine Ausländerin heiraten? Hatte er nicht an seine Kinder gedacht? ... Mein Gott, war ich blöd!
In dem Jahr, als ich elf wurde, verkündete Papa, dass wir nach Sirte ziehen würden, eine Stadt zwischen Bengasi und Tripolis, ebenfalls an der Mittelmeerküste gelegen. Er wollte zurück in die Heimat seiner Familie, seines Vaters – eines sehr traditionsbewussten Mannes, der vier Frauen hatte –, seiner Brüder und Cousins. So ist das in Libyen. Alle Familien versuchen,sich um einen festen Kern herum zu scharen, der ihnen, so meinen sie, Kraft und bedingungslose Unterstützung gibt. In Bengasi waren wir ohne Wurzeln, ohne Verbindungen, wir waren wie Waisen. Jedenfalls hat Papa uns das so erklärt. Aber für mich war diese Nachricht die reinste Katastrophe. Ich sollte meine Schule verlassen? Meine Freundinnen? Was für ein Drama! Ich wurde krank darüber. Richtig krank. Lag zwei Wochen im Bett, unfähig aufzustehen und in die neue Schule zu gehen.
Und schließlich bin ich doch gegangen. Mit bleischweren Füßen. Ich begriff sehr bald, dass ich hier nicht glücklich werden würde. Man muss dazu wissen, dass wir ja in die Geburtsstadt von Gaddafi kamen. Von seiner Person habe ich noch gar nicht gesprochen, er war überhaupt kein Thema bei uns zu Hause. Mama hasste ihn ganz entschieden. Sobald er auf dem Bildschirm erschien, schaltete sie um. Sie nannte ihn »Zottelbirne« und wiederholte kopfschüttelnd: »Also wirklich, kann ein Kerl, der so aussieht, Präsident sein?« Papa hatte, glaube ich, Angst vor ihm und hielt sich zurück. Wir spürten alle, je weniger wir von ihm sprachen, desto besser war es, die geringste Äußerung außerhalb der Familie konnte aufgeschnappt und weitergetragen werden und uns großen Ärger einbringen. Kein Porträt von ihm im Haus, und schon gar keine politische Betätigung. Sagen wir, wir waren instinktiv alle auf der Hut.
In der Schule dagegen herrschte die reinste Anbetung. Sein Bild war allgegenwärtig. Jeden Morgen sangen wir die Nationalhymne vor seinem an die grüne Fahne gehefteten Riesenposter, wir riefen: »Du bist unser Führer, wir folgen dir, blablabla«; im Klassenzimmer oder in der Pause amüsierten wir Schüler uns mit »mein Cousin Muammar«, »mein
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