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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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durch Erpressung, gezwungen worden waren, sich den sexuellen Phantasien und Begierden Gaddafis zu unterwerfen. Dass er über ein Netzwerk von Diplomaten, Militärs, Leibwächtern, Verwaltungsangestellten und Mitarbeitern seiner Protokollabteilung verfügte, derenwesentliche Aufgabe darin bestand, ihrem Herrn junge Frauen – oder auch junge Männer – für seinen täglichen Bedarf zuzuführen. Dass Familienväter und Ehemänner ihre Töchter und Frauen zu Hause einschlossen, um sie dem Blick und der Begehrlichkeit des Führers zu entziehen. Ich entdeckte, dass der in einer Familie armer Beduinen geborene Diktator mit dem Sex regierte, besessen von der Vorstellung, eines Tages auch die Frauen oder Töchter der Reichen und Mächtigen, seiner Minister und Generäle, die von Staatschefs und Souveränen zu beschlafen. Den Preis dafür wollte er bezahlen. Jedweden Preis. Da kannte er keine Grenze.
    Aber darüber zu reden ist das neue Libyen nicht bereit. Tabu! Dabei zögert man keineswegs, Gaddafi zu belasten und zu fordern, dass die zweiundvierzig Jahre seiner absoluten Macht mit all ihren Schändlichkeiten ans Licht kommen. Man spricht von den Misshandlungen der politischen Gefangenen, den Ausschreitungen gegen Oppositionelle, der Folterung und Ermordung von Rebellen. Man wird nicht müde, seine Tyrannei und seine Korruption anzuklagen, seine Doppelzüngigkeit und seinen Wahnsinn, seine Manipulationen und seine Perversität. Und man fordert Entschädigung für alle seine Opfer. Aber von den Hunderten junger Mädchen, die er sich unterworfen und die er vergewaltigt hat, will man nichts hören. Sie sollten sich verkriechen oder, unter einem Schleier verborgen, ihren Schmerz zu einem Bündel geschnürt, ins Ausland gehen. Das Einfachste wäre, sie würden sterben. Manch einer der Männer in ihren Familien wäre schon bereit, das zu übernehmen.
    Ich bin nach Libyen zurückgekehrt, um Soraya wiederzusehen. Ich habe noch weitere Schicksale zusammengetragenund versucht, das Netzwerk der dem Diktator hörigen Mittäter freizulegen. Eine Recherche unter Hochdruck. Noch haben Opfer und Zeugen Angst, das Thema überhaupt anzuschneiden. Manche haben Drohungen erhalten, es gab Einschüchterungsversuche. »In Ihrem eigenen Interesse und dem Libyens, lassen Sie diese Untersuchung sein!«, so haben mir viele Gesprächspartner geraten und sehr plötzlich aufgelegt. Und aus seinem Gefängnis in Misrata, wo er heute seine Tage mit Koranlektüre verbringt, schreit mir ein junger Bärtiger – der an dem Mädchenhandel beteiligt war – wütend entgegen: »Gaddafi ist tot! Tot! Warum wollt ihr seine skandalösen Geheimnisse noch ausgraben?« Der Minister für Verteidigung, Ussama al-Juili, ist auch nicht weit von dieser Auffassung entfernt: »Es ist eine Schande und eine nationale Demütigung. Wenn ich an die Schmach denke, die so vielen jungen Leuten, darunter auch Soldaten, angetan wurde, empfinde ich einen derartigen Ekel! Ich versichere Ihnen, am besten schweigt man darüber. Die Libyer fühlen sich kollektiv beschmutzt und wollen einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen.«
    Ach ja? Es gibt also Verbrechen, die man anprangern, und andere, die man wie schmutzige kleine Geheimnisse unter den Teppich kehren sollte? Es gibt schöne und edle Opfer und andere, die schändlich sind? Solche, die man ehren, mit Gratifikationen versehen, entschädigen muss, und solche, unter deren Geschichte man schnellstens »einen Schlussstrich ziehen« sollte? Nein. Das ist inakzeptabel. Sorayas Geschichte ist kein anekdotisches Detail. Verbrechen gegenüber Frauen – leider begegnet man ihnen weltweit mit ziemlicher Großzügigkeit, ja Nachsicht – sind kein lässliches Thema.Sorayas Bericht ist mutig und sollte wie ein Dokument gelesen werden. Ich habe ihn unter ihrem Diktat geschrieben. Sie kann gut erzählen, und sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und die Vorstellung, dass das, was sie erleben musste, in einer Verschwörung des Schweigens untergehen sollte, ist ihr unerträglich. Es wird vermutlich keinen Strafgerichtshof geben, der ihr eines Tages Gerechtigkeit widerfahren lässt. Vielleicht wird selbst Libyen niemals bereit sein, das Leid von Muammar Gaddafis »geraubten Mädchen« anzuerkennen. Aber wenigstens wird es ihr Zeugnis geben, um zu beweisen, dass, während Gaddafi in weltherrlicher Pose vor der UNO paradierte, während die anderen Nationen ihm den roten Teppich ausrollten und ihn mit Fanfarenklängen empfingen, während seine

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