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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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abgespeist, weit unterhalb des üblichen Honorars. Sie war wütend darüber und fühlte sich gedemütigt. Als Judia später noch einmal kam, um sie abzuholen, hat sie unter dem Vorwand, dass sie zu viel Arbeit habe, rundweg abgelehnt. Und wieder andere Male hat sie sich sogar versteckt und mich vorgeschickt, die ihr erklären sollte, sie sei nicht da. Ja, meine Mutter hat Charakter. Sie hat immer Rückgrat bewiesen.
    Die Frauen der Gaddafi-Sippe waren meist sehr unsympathisch. Wenn ich auf eine von ihnen zuging und sie fragte, ob sie einen Haarschnitt oder eine Koloration wünschte, entgegnete sie mir verächtlich: »Wer bist du eigentlich, dass du mich ansprichst?« An einem Morgen kam eine dieser Frauen in den Salon, sehr elegant, einfach prachtvoll anzuschauen. Ich war ganz fasziniert von ihrem Gesicht. »Wie schön Siesind!«, sagte ich unwillkürlich. Da hat sie mich geohrfeigt. Wie erstarrt lief ich zu Mama, die zwischen den Zähnen murmelte: »Halt den Mund. Die Kundin hat immer recht.« Drei Monate später sah ich voller Angst dieselbe Dame wieder den Salon betreten. Sie kam auf mich zu, sagte mir, dass ihre Tochter, die in meinem Alter gewesen sei, vor kurzem an Krebs gestorben sei, und bat mich um Verzeihung. Das war noch unerhörter als ihre Ohrfeige.
    Ein andermal hatte eine angehende Braut den ganzen Salon reservieren lassen für eine Schönheitsbehandlung am Tag ihrer Hochzeit. Sie hatte eine kleine Anzahlung geleistet, dann aber hat sie abgesagt. Als Mama es ablehnte, ihr die Summe wieder auszuzahlen, wurde sie zur Furie. Sie schrie herum, zerschlug alles, was sie in die Finger bekam, informierte dann den Gaddafi-Clan, der mit einem Großaufgebot anrückte und den Salon verwüstete. Einer meiner Brüder eilte zu Hilfe und wurde zusammengeschlagen. Als die Polizei eintraf, war es mein Bruder, der verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde. Die Gaddafis haben alles getan, damit er dort so lange wie möglich blieb, und es brauchte lange Verhandlungen unter den einzelnen Stämmen, bis eine Übereinkunft zustande kam, gefolgt von einer Art Begnadigung. Nach sechs Monaten kam er heraus, mit geschorenem Schädel und den Körper voller blauer Male. Man hatte ihn gefoltert. Und trotz dieser Stammesübereinkunft haben die Gaddafis, die in allen Institutionen von Sirte saßen, einschließlich dem Rathaus, auch noch durchgesetzt, dass der Salon für einen weiteren Monat geschlossen blieb. Ich war empört.
    Mein ältester Bruder, Nasser, machte mir immer ein wenig Angst, und er benahm sich mir gegenüber sehr autoritär. AberAziz, der im Jahr vor mir geboren wurde, war wie mein Zwilling, ein echter Kumpel. Da wir in dieselbe Schule gingen, war er wie ein Beschützer für mich, allerdings ein eifersüchtiger Beschützer. Und ich diente ihm als Botengängerin, wenn er einen Schwarm hatte. Ich selbst dachte nicht an Liebe, wirklich überhaupt nicht. Ich war total ahnungslos. Ein unbeschriebenes Blatt. Vielleicht habe ich mir da sogar selber ein Verbot auferlegt, denn ich wusste ja, wie streng meine Mutter war. Keine Ahnung. Ich hatte nicht einen einzigen Verehrer. Ich kannte keine Schmetterlinge im Bauch. Ich habe nicht mal von Liebe geträumt. Ich glaube, ich werde mein Leben lang bedauern, dass ich nie eine Jugendliebe hatte. Ich wusste, dass ich eines Tages heiraten würde, das war das Schicksal der Frauen, und dass ich mich dann schminken und schön machen müsste für meinen Mann. Aber etwas anderes wusste ich nicht. Weder über meinen Körper noch über Sexualität. Ich bin in Panik geraten, als ich meine Regel bekam! Ich bin zu meiner Mutter gerannt, die mir nie etwas erklärt hatte. Und wie habe ich mich geschämt, wenn im Fernsehen eine Werbung für Damenbinden kam! Wie verlegen war ich plötzlich, wenn ich solche Bilder in Gegenwart der Jungen der Familie sah ... Ich erinnere mich, dass Mama und meine Tanten zu mir sagten: »Wenn du achtzehn bist, werden wir dir einiges erzählen.« Was, einiges? »Das Leben.« Sie haben keine Zeit mehr dazu gehabt. Muammar al-Gaddafi kam ihnen zuvor. Und hat mich zerbrochen.
    *
    An einem Aprilmorgen im Jahr 2004 – ich war gerade fünfzehn geworden – wandte sich der Direktor des Gymnasiums an alle im Hof versammelten Schülerinnen: »Der Führer erweistuns die große Ehre, uns morgen zu besuchen. Das ist eine Freude für die ganze Schule. Ich zähle also auf euch, dass ihr pünktlich seid, diszipliniert und tadellos gekleidet. Ihr sollt ihm das Bild einer wundervollen

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