Niemand lebt von seinen Träumen
du sollst alles von mir bekommen, Frank«, sagte Susanne mit bebender Stimme.
Dann lagen sie eng umschlungen beieinander und vergaßen alles um sich herum. Der Abschiedsschmerz, die Angst und die Ungewißheit … alles verblaßte, verlor an Bedeutung. Sie liebten sich, spürten nur ihre Körper, genossen mit einer Tiefe, die so weit war wie die Unendlichkeit des Himmels. Sie erlebten das vollkommene Wunder, wie es sich immer offenbart, wenn zwei Menschen der innigsten Liebe begegnen. In hemmungsloser und zugleich zärtlicher Leidenschaft vergingen die Stunden.
Später lagen sie in der tiefen Dunkelheit eng aneinander geschmiegt, durch nichts mehr zu trennen, und küßten sich gegenseitig die Schweißperlen aus den Augenwinkeln. Susanne schluchzte. Doch dieses Mal waren es Tränen des unbeschreiblichen Glücksgefühls, das sie verspürte. Erst als der Morgen graute, lösten sie sich aus der Verzauberung dieser Nacht. Frank mußte ja nach Essen fahren. Susanne brachte ihn nicht zum Bahnhof. Sie wollte liegenbleiben und so lange wie möglich die Wärme genießen, die er in ihrem Bett zurückgelassen hatte.
Das Leben nahm seinen Lauf. Die Tage gingen dahin in Ruhe, mit nächtlichen Tränen und vielen gemeinsamen Stunden. Es war, als wollten sie wie Blumen, die Angst haben, sie könnten nicht erblühen, jeden Strahl des Glücks mitnehmen. Sie sehnten sich jedem Wiedersehen entgegen, bewußt die Augen vor der Tatsache verschließend, daß ein Tag nach dem anderen verrann und der Termin der Abreise Frank Barrons immer näher rückte. Frank hatte sich zwischendurch einen Tag freigenommen und war nach Frankfurt zum amerikanischen Generalkonsulat gefahren. Aber er hatte dort nur erfahren, daß für die Auswanderung von Familienangehörigen nicht das Konsulat zuständig sei, sondern die in Bremen eingerichtete Zentralstelle für Einwanderung in die USA. Bremen jedoch antwortete auf eine Anfrage kurz und bündig:
Betrifft: Ihre Anfrage vom 22.7.
Familienangehörige sind solche Personen, die in unmittelbarem Verhältnis zum Ausgewanderten stehen, wie Ehefrau (-mann), Vater und Mutter. Brüder, Großeltern und andere Verwandte gelten zwar als Verwandte, aber sie sind erst an zweiter Stelle bevorzugt berechtigt. Bräute gelten nicht als Verwandte, wenn das Aufgebot nicht bestellt ist. Ist eine Trauung lediglich durch den Termin der Auswanderung verschoben worden, so sind Ausnahmebestimmungen zulässig, die von Fall zu Fall von der Einwanderungsbehörde in Washington gefällt werden.
Gezeichnet
McMillian.
LT.C.
Frank zeigte Susanne diesen Brief nicht. Er wollte alles vermeiden, was sie noch mehr ängstigen würde oder sie noch trostloser machte, als sie es im geheimen schon war. Sie ließ es sich zwar nicht anmerken, aber sie magerte in diesen Wochen ab, weil sie des Nachts schlaflos im Bett lag, bis die Müdigkeit sie übermannte. Doch auch dann schlief sie unruhig und wachte bereits beim ersten Morgengrauen wie zerschlagen auf. Das alles merkte Frank, er sah es an dem Verfall seiner Braut, aber er schwieg. Er mußte ja schweigen, weil er ohnmächtig war zu helfen. Er schrieb nur immer wieder mit neuen Argumenten an das Konsulat und nach Bremen. So lange, bis er von dort überhaupt keine Antwort mehr bekam, weil seine Briefe anscheinend ungeöffnet in den Papierkorb flogen.
Eine Woche vor seiner Abreise – inzwischen war der November mit seinen grauverhangenen Tagen und seinen feuchtkalten Nächten eingekehrt – sahen sie sich zum letzten Mal.
Sie sprachen nicht darüber, daß es unwiderruflich die Stunden des Abschieds waren. Sie gingen in Köln ins Kino. Es lief ein neuer deutscher Film. ›Hallo, Fräulein‹ mit Margot Hielscher und Peter van Eyck, der den Aufstieg einer Jazzsängerin erzählte; ein Film mit verführerisch guter deutscher Musik – aber zugleich auch ein Film über das Schicksal der Displaced Persons, jener Unglücklichen, die glaubten, ohne Einwanderungsgenehmigung einen Weg in die USA zu finden, und die statt dessen in Lagern ihrer Bestrafung entgegensahen.
Susanne wurde von der Musik mitgerissen, aber als sie das Kino verließen, wußte sie, daß die beiden letzten Stunden ihre Traurigkeit nur noch verstärkt hatten. Stand ihr nicht eventuell auch das Los einer ›DP‹ bevor?
Frank erriet ihre Gedanken. Er führte seine Braut sofort in ein Tanzlokal. Dort saßen sie in einer Weinlaube, tranken eine Flasche Rheinwein und tanzten anscheinend mit dem gleichen Vergnügen wie alle übrigen Gäste.
Weitere Kostenlose Bücher