Niemand
lange, bis die Nacht die Sonne vertrieb. Die Greislinge hätten die Nacht für immer aus dem Niemandsland verdammt, wenn sie an den Zeitschalter gelangt wären.
Die Niemandsländer hatten gewonnen, doch ihr Sieg, das ahnten sie, würde eines sonnigen Tages angefochten werden.
»Der Thron«, flüsterte Nina. »Eigentlich wollte ich doch nur deinen Thron sehen.« Jetzt hatte sie mehr gesehen, als ein vierzehnjähriges Mädchen verkraftete: Tod. Blut. Seltsame Wesen, wie sie ihr in noch keiner Geschichte begegnet und selbst in ihrer Fantasie niemals erschienen waren. Sie hatte den Nikolaus umarmt und dem Himmlischen Kind das Goldene Horn geklaut. Sie hatte gekämpft, sogar getötet, geweint, gelitten, Haare verloren – jawohl – und sich in einen Niemand verliebt, der für sie nie ein Niemand gewesen war, obwohl sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, nachdem er schon gestorben war.
Es waren schöne und furchtsame, seltsame und irrationale Erlebnisse. Aber keines hatte eine so starke, verwirrende Wirkung auf sie wie die pulsierende Farbdusche, die von dem Thron des Herrschers ausging. Der Thron, der für alle wichtig gewesen und bei all den Strapazen, dem Kämpfen und Denken in Vergessenheit geraten war.
Alle betrachteten staunend die Strahlen, die bunt und leuchtend die gesamte Bergkuppe und einen großen Teil der Burg beleuchteten.
Niemand achtete auf Nina. Aber leider gab es keinen Niemand mehr, sodass Nina unbemerkt auf den Thron zuging – magisch angezogen, obwohl Ben – einst ein Niemand – nahe bei Nina stand. Er ließ sich ablenken, wie alle anderen auch. Nur hier und da klang ein »Oh!« oder »Ach!«, ein Seufzen oder überraschtes Summen.
Die Farben der Edelsteine – nicht alle rein, viele mit Einschlüssen – verschwammen ineinander und produzierten neue Farbvarianten, für die Nina keine Bezeichnung wusste, außer: schön!
Sie stand so dicht vor dem Thron, dass sie nur den Arm ausstrecken musste, um ihn zu berühren. Und sie streckte den Arm aus, beide Arme. Nina berührte einen Rosenquarz und einen Amethyst – beide in ihrer Farbgebung intensiv und fast einfarbig.
Das Dumme Würstchen rieb sich seine brennenden, von der Helligkeit gereizten Augen. Es entdeckte Nina, die sich gefährlich nah am Thron befand. Es stupste mit dem Ellenbogen einen Eierkopf an, der daraufhin eierte und den Arsch mit Ohren berührte, dessen Ohren schlackerten und Fräulein Klimper beinahe von Lillys Rücken heruntergeweht hätten. »Hey, was soll das?«, rief sie. Und folgte den Blicken der neben ihr stehenden Niemandsländer.
»Beim Goldenen Horn! Nina! Nicht!«
Jetzt sahen alle zuerst zu Fräulein Klimper, die aufgesprungen war, auf und ab hüpfte und mit ihrem Zauberstab wild in der Luft herumfuchtelte. Dabei hatte sie nicht mit Lilly gerechnet, die genauso erschrak, als sie Nina entdeckte. Die Abrissbirnenkatze rannte los. Fräulein Klimper fiel nach hinten, rutschte rückwärts von Lillys Rücken und rettete sich erneut vor einem Sturz, indem sie sich mit einer Hand an Lillys Schwanz festhielt. Darin war sie schon geübt. Die Klimper-Wünsche-Fee schrie nichts weiter als: » AAHHHHOOOHHWWAHHHHHHHH !« Auf »Halt!« hätte Lilly nicht gehört.
Auch Ben hatte Nina nun wieder fest im Blick, hätte er sich doch nur nie ablenken lassen. Er lief los. Der Nikolausmantel hinderte ihn daran, schnell vorwärts zu kommen, er warf ihn ab. Fast nackt, nur mit dem Leibchen bekleidet, erreichte er den Thron. »Nein! Du darfst dich nicht setzen! Nina!«
Doch alles Rufen und Rennen und Staunen kam zu spät.
Nina, entzückt von all den bunten Edelsteinen, entrückt von all dem Glanz und der Magie des Throns, seufzte dankbar, als sie sich auf den Thron setzte. Der Thron, der dem wahren Herrscher das Leben schenkte, dem Herrscher, der sich die Magie und die Macht des Throns verdient machen musste. So hatte es Niemand Sonst all die Jahre erzählt, darum hatten Niemand Sonst, Überhaupt Niemand, die Kreischzwerge und die Greislinge gekämpft, so wussten es die Niemandsländer. So hatten es einst die Vorfahren des Landes bestimmt, als es noch nicht Niemandsland hieß. Und so war es auch!
»Nina!«
Ben traf als Erster ein, er brach erschöpft am Fuße des Throns zusammen. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, sein Puls ließ das Blut in den Ohren rauschen. »Nina.« Seine Stimme klang rau, als er immer nur wieder ihren Namen wiederholte. »Nina, Nina, Niiiinaaaa.« Eine Armee von Trauerklößchen
Weitere Kostenlose Bücher