Niemand
imaginären Brille, die er nun auf der Nase trug, und den Schmetterlingen – herzförmige vermutlich –, die in seinem Bauch Rumba tanzten. Er lief so schnell, dass er nicht auf die Büsche mit den rosaroten Blüten achtete, die er streifte und aus denen er Glückskäfergroßfamilien aufscheuchte. Er ließ sich nicht vom Duft der roten Rosen verführen, die am Wegesrand blühten, nur um gepflückt und an die Liebste verschenkt zu werden. Und er ignorierte die nackten Engel, die Lieder von der Liebe sangen und darauf warteten, die Besucher des Liebeswäldchens mit ihrem Liebessaft zu infizieren, der an den Spitzen ihrer Pfeile klebte.
Wer hatte sich diesen Kitsch ausgedacht?
Jemand, der auf die große Liebe wartete. Jemand, der sich nach Liebe sehnte, nach der wahren Liebe, dem einzigen Gegenpart – nur diesem einen, niemandem sonst.
Niemand blieb stehen.
Sofort umschwirrten ihn liebestolle Elfen, ließen Liebesperlen und Liebesknochen, vermischt mit rosa und roten Rosenblättern, über ihn regnen. Einige trugen Körbe mit Erdbeeren darin, die einen leckerlieblichzuckersüßen Erdbeerduft verströmten, der in Niemand die Sehnsucht nach Nina weckte. Er fühlte sich wie betrunken, schüttelte den Kopf, um klar denken zu können und ging ein paar Schritte voran. Die Elfen verfolgten ihn und bestäubten ihn mit einer Prise Elfenstaub. Niemand scheuchte sie weg: »Verschwindet!«
Sie blieben.
Und mit einem Mal störte es ihn nicht mehr. Denn Niemand erkannte, was er bisher nur ein einziges Mal hatte sehen können – vor wenigen Stunden, als er mit Nina in Gefahr schwebte: sich. Mit einer Ausnahme, im Liebeswäldchen sah er sich deutlicher.
Das hatte er nicht gewusst! Bisher hatte er das Liebeswäldchen gemieden. Liebe. Er hatte nicht geahnt, was dieses Wort bedeutete. Doch es war so viel mehr als rote Blütenblätter und ewige Liebesschwüre.
Niemand schloss die Augen. Er musste mit Nina hierher, sie sollte sehen, wie er aussah, alleine traute er sich nicht, seinen Körper komplett zu betrachten. Er fürchtete sich sogar davor. Und wenn sie ihn gesehen hatte, wenn sie wusste, wer oder was er war, und sie dann noch nach Erdbeeren roch, würde er sie küssen. Genau hier. Vielleicht wusste sie dann einen Namen für ihn.
Niemand lauschte: Summen der Elfen, Flattern der Herzschmetterlinge, Engelsgesang, Gezirpe von zwei verliebten Grillen. Ein laues Lüftchen liebkoste seine Wangen, ein Engel küsste ihn zärtlich auf den Mund, ein anderer spielte mit seinem Haar. Die mit lieblichsüßen Gerüchen geschwängerte Luft raubte ihm den Atem.
Er lief weiter, umschiffte die Geheimratsecke, in der zwei Verliebte knutschten. Schlagartig wurde ihm bewusst, wer diesen Wald geschaffen hatte:
Seine Mutter.
Niemand Sonst war die Liebe seiner Mutter. Sie wollte nur ihn lieben, niemanden sonst. Doch für einen Namen fehlte ihr – die Phantasie? Die Kraft? Oder war es die Erkenntnis, dass Niemand Sonst nicht der Niemand Sonst war, den sie sich in ihrem Herzen gewünscht hatte? War er nie mit ihr in das Liebeswäldchen gegangen? Hatte sie geahnt, dass ihr Niemand Sonst, den sie lieben, ehren und achten wollte, ein skrupelloses Arschloch – nur schlimmer – ohne Gewissen war, das nicht davor zurückschreckte, sie zu töten?
Das konnte sie nicht gewusst, noch weniger gewollt haben!
Niemand rannte, die Augen weit nach vorne gerichtet. In den Bewegungsabläufen sah er seine Hände, seine Arme, seine Füße. Und was er sah, gefiel ihm.
Die Liebeshymnen der Liebeswäldchen-Bewohner ignorierend, hoffte er auf eine Antwort zu all seinen Fragen über seine Mutter, seinen Vater und seine Zukunft, die ihm der Wind zuraunen würde. Doch der Wind begleitete die Niemandsländer – und setzte ihnen Flausen ins Ohr.
56.
Norbert, Wolfgang, Manfred, Ernst, Michael, Andreas, Holger, Kurt, Dirk, Jens, Ulrich, Johann, Paul, Friedrich, Markus, Karl, Torsten, Walter, Marian, Rolf, Günter, Stefan, Sebastian, Felix, Finn, Leo, Lars, Lutz, Sebastian, Urs …
Alle Namen, die Nina einfielen, schienen für Niemand langweilig. Auch unter den Vorschlägen von Lilly, Fräulein Klimper und Anton fand sich kein Name, der zu einem Herrscher passte.
Nina spürte, wie die Müdigkeit ihr in die Knochen kroch. Aber sie wollte nicht schlafen. Sie musste wach bleiben und die anderen warnen, sobald Niemand Sonst versuchte, sich Zugang zum Zimmer zu verschaffen. Und er würde kommen. Lilly, Petit und Anton schliefen längst. Fräulein
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