Ein Moment fürs Leben. Roman
Kapitel 1
Liebe Lucy Silchester,
ich möchte Sie am Montag, dem 30. Mai 2011, zu einem Treffen bitten.
Den Rest las ich gar nicht mehr. Das war auch nicht nötig, denn ich wusste genau, wer mir diesen Brief geschickt hatte. Es war mir sofort klar, als ich von der Arbeit in mein Studio-Apartment zurückkam und ihn auf halbem Weg zwischen Tür und Küche auf dem Boden liegen sah, auf dem angekokelten Stück Teppich – vor zwei Jahren war der Weihnachtsbaum umgekippt und hatte mit seinen Lichtern den Teppichflor versengt. Der Teppich war ein altes billiges Ding, das mein knauseriger Vermieter ausgesucht hatte. Er war aus schäbigem grauen Synthetikmaterial, das aussah, als wären schon mehr Füße darübergelaufen als über die angeblich glückbringenden Hoden des Stiers auf dem Mosaik in der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II . In dem Bürogebäude, in dem ich arbeitete, lag ein ähnliches Material aus – aber dort passte es besser hin, denn dieser Teppich war nie zum Barfußlaufen gedacht, sondern für den stetigen Strom glänzender Lederschuhe, die sich vom Schreibtisch zum Kopierer bewegten, vom Kopierer zur Kaffeemaschine, von der Kaffeemaschine zum Notausgang und von dort ins Treppenhaus, denn paradoxerweise war hier der einzige Ort, wo der Feueralarm nicht ausgelöst wurde und man in Ruhe ein heimliches Zigarettenpäuschen machen konnte. Ich selbst war an der Suche nach diesem Rauchereck beteiligt gewesen – wenn der Feind uns wieder einmal aufspürte, machten wir uns stets unverzüglich auf die Suche nach einem neuen Versteck, und auch dieses hier war leicht an den Hunderten am Boden aufgehäufter Kippen zu erkennen. In panischer Hektik saugten die Raucher den Zigaretten das Leben aus und entledigten sich achtlos der äußeren Hülle, während die Seelen noch in ihren Lungen schwebten. Keinem anderen Ort des Bürogebäudes wurde so intensiv gehuldigt wie diesem – mehr als der Kaffeemaschine, mehr als den Ausgangstüren abends um sechs, mehr als dem Stuhl vor dem Schreibtisch von Edna Larson, unserer Chefin, die die guten Absichten ihrer Angestellten in sich aufsaugte wie ein kaputter Automat, der die Münzen schluckt und sich dann weigert, den Schokoriegel auszuspucken.
Der Brief lag also auf dem schmutzigen, angesengten Teppichboden. Ein cremefarbener Leinenumschlag, auf dem in gewichtigen George-Street-Lettern und eindeutiger schwarzer Tinte mein Name stand, neben einem goldenen Stempel in Form von drei sich berührenden Spiralen.
Die Dreifachspirale des Lebens. Ich kannte sie, denn ich hatte bereits zwei Briefe dieser Art erhalten und das Symbol gegoogelt. Aber ich hatte den Termin beide Male nicht wahrgenommen und auch nicht die angegebene Nummer angerufen, um ihn zu verlegen oder abzusagen. Ich hatte die Briefe einfach ignoriert, sie sozusagen unter den Teppich gekehrt – jedenfalls hätte ich das gern getan, aber dank der Weihnachtslichter war er ja leider hinüber – und vergessen. Nein, nicht wirklich vergessen. Dinge, die man getan hat, obwohl man sie nicht hätte tun sollen, vergisst man ja nie, sie bleiben einem im Kopf, lungern dort herum wie Einbrecher, die ein neues Ziel ausbaldowern. Man sieht sie gelegentlich, wie sie sich unauffällig irgendwo rumdrücken, aber sobald man sie anvisiert und zur Rede stellen will, sind sie blitzschnell hinter dem nächsten Briefkasten verschwunden. Oder es ist, als sieht man in der Menge ein bekanntes Gesicht auftauchen, das man gleich wieder aus den Augen verliert. Ein irritierendes Wimmelbild, für immer ins Gedächtnis eingeprägt und in jedem Gedanken versteckt, der durchs Gewissen zieht. Immer ist es da, die Erinnerung an das, was man nicht hätte tun sollen, sie lässt einen einfach nicht in Frieden.
Einen Monat nach dem zweiten von mir ignorierten Brief war dieser hier mit einem erneut verlegten Termin eingetrudelt, ohne den kleinsten Hinweis darauf, dass ich auf die ersten beiden Einladungen nicht reagiert hatte. Und genau wie früher bei meiner Mutter führte die Tatsache, dass meine Unzulänglichkeit höflich übergangen wurde, dazu, dass ich mich umso schlechter fühlte.
Ich hielt das schicke Papier zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe und legte den Kopf schief, um es zu lesen, weil es zur Seite klappte. Anscheinend hatte der Kater mal wieder daraufgepisst. Ironie des Schicksals. Ich machte ihm keinen Vorwurf, denn da ich mitten in der Stadt in einem Hochhaus wohnte, in dem Haustierhaltung verboten war, und außerdem
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