Niemandsland
Verspiegeltes Glas gab den
Blick über den See frei. An den Wänden Bierleuchtreklamen. Nach links ging es
in einen Speisesaal mit Tanzfläche. Die Instrumente auf der Bühne waren
abgedeckt. Rechts befand sich eine Lounge, in der die Leute in Dreierreihe um
die Bar standen. Dort fand ich auch Anne-Marie, die den zweiten Stuhl an ihrem
Tisch gegen andere Interessenten verteidigte. Ihr gertenschlanker Körper
steckte in Jeans und einer Denimjacke. Ihre langen Beine ruhten auf dem Sims
unterhalb des breiten Fensters. Sie hatte für mich schon ein Glas Weißwein
bestellt.
»He«, rief sie, als ich auf sie zukam,
»ich hatte dich schon fast aufgegeben.«
»Tut mir leid.« Ich rutschte auf den
leeren Stuhl. »Ich habe Touristin gespielt und mich hinreißen lassen.«
»Das dachte ich mir. Wie geht es dir?«
»Nicht schlecht. Und dir?«
»Müde, aber sonst bestens. Ich befinde
mich auf einem Kreuzzug, und du weißt, was das für mich bedeutet.«
Anne-Marie ist Veteranin der ersten
Stunde in der Frauenbewegung und zugleich beim Krieg gegen die Armut in den
siebziger Jahren. Am glücklichsten ist sie, wenn sie mit aushecken kann, wie die
herrschenden Verhältnisse gestürzt werden könnten. Doch in den letzten Jahren
hatte sie als Steueranwältin bei All Souls vor sich hin geschmachtet — ein
Spezialgebiet, dem sie sich eher im Interesse unserer Kooperative gewidmet
hatte als in ihrem eigenen. Dieser Sonderurlaub hatte ihr sichtlich gutgetan:
Ihr freches blondes Haar war vom Wind zerzaust. Das schöne, feingeschnittene
Gesicht strahlte vor Gesundheit. Die blauen Augen glänzten. Letztes Jahr noch
war sie immer ausgemergelter und hohläugiger geworden. Jetzt hatte sie etwas
zugenommen, und die zusätzlichen Pfunde standen ihr gut. Als ich sie jetzt so
sah, wurde mir klar, wie depressiv Anne-Marie gewesen war, bevor sie ihren
Sonderurlaub angetreten hatte. Natürlich hatte es auch schon früher in ihrer
Ehe mit Hank Probleme gegeben, aber sie hatten sie immer wieder glattgebügelt.
Nachdem dann im vergangenen Sommer auf ihn geschossen worden war und er fast
ums Leben gekommen war, hatte sich eine Nähe zwischen ihnen gebildet, die
selbst bei glücklich verheirateten Menschen selten ist.
Ich sagte: »Dann erzähl mir von deinem
Kreuzzug. Ich bin heute nachmittag beim Wohnwagen der Coalition gewesen und
habe einen von den Leuten kennengelernt. So wie er sich verhielt, muß es
ziemlich mysteriös sein.«
»So? Wer war es?«
»Heino Ripinsky.«
»Ach, Hy. Das ist so seine Art.« Ich
wollte noch mehr über Ripinsky erfahren, aber sie setzte hinzu: »Wir reden nach
dem Dinner darüber. Jetzt möchte ich erst einmal hören, wie es dir geht und was
zu Hause los ist.« Bevor Anne-Marie an den Tufa Lake gekommen war, hatte sie
einen Monat im Hauptquartier der Coalition in Sacramento verbracht und war nur
für ein Wochenende in »der City« gewesen, wie wir egozentrischen
San-Francisco-Bewohner unsere Stadt nennen.
»Also, da gibt es nicht viel zu
erzählen«, sagte ich. »Natürlich ist Hank ein ziemlicher Miesepeter, wenn du
nicht in der Nähe bist. Wir alle muntern ihn immer wieder auf. Rae —«
»Was im All Souls los ist, weiß ich.
Ich telefoniere jeden zweiten Abend mit Hank. Ich will wissen, wie es dir geht.«
»Du meinst, George und mir.«
Sie nickte und lächelte
verschwörerisch.
Seit Juli traf ich George Kostakos, den
Psychologieprofessor an der Stanford-Universität und mit großer
Wahrscheinlichkeit die Liebe meines Lebens, wieder. Sechs Monate hatte er mit
dem seelischen Zusammenbruch seiner — jetzt früheren — Frau und um ihre
Rekonvaleszenz gekämpft. Dieses halbe Jahr bis zu seiner Rückkehr war schlimm
gewesen. Ich hatte nicht nur an Georges Vorsatz zu zweifeln begonnen, daß er
überhaupt zu mir zurückkommen wollte, wenn er sein Leben in Ordnung gebracht
hätte. Ich hatte auch zu zweifeln begonnen, ob ich selbst bereit war, ihn
wieder in mein Leben zurückkehren zu lassen. Aber der Neubeginn unserer
Beziehung hatte meine Vorbehalte zerstreut. Nun war ich glücklich wie seit
langem nicht. Zwar waren am Horizont ein paar dunkle Wolken geblieben...
»Also?« sagte Anne-Marie.
»Also... er will, daß ich zu ihm
ziehe.«
»Und?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Shar, warum nicht? George ist ein
wunderbarer Mann.«
»Ich weiß nicht... Ich glaube, ich
brauche meine eigenen vier Wände.«
»Ich bin sicher, in seiner riesigen
Wohnung ist für euch beide Platz genug.«
»Aber da ist mein
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