Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
plötzlich innezuhalten und »in kurzen mit einem unbeschreiblichen Tone vorgebrachten Sätzen sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes« zu sagen, »das Ganze auf dem Klavier gleichsam interpunktierend« 519 .
Der Himmel steht blau und unendlich offen über dem Turiner Bahnhof, es ist der Himmel, den er liebt. Wahrscheinlich überkommt Friedrich Nietzsche das sichere Gefühl, eine Ansprache halten zu müssen, denn wären hier so viele Menschen, wenn nicht um ihn zu sehen, ihm zu huldigen, dem Nachfolger Gottes? Overbeck vermerkt eine »furchtbare halbe Stunde«. Dann, um 14:20 Uhr verlässt der Zug Richtung Basel den Turiner Bahnhof. Overbeck betäubt den Freund mit Chloral, denn wenn er nicht schläft, beginnt er, Musik zu machen. Aber Friedrich Nietzsche wacht trotz der Droge immer wieder auf, und er, der immer betont leise gesprochen hat, kann sehr laut singen durch die Alpennacht, es sei denn, das Liedgut fordert es anders. Overbeck hört eine Weise, die er nicht kennt, die ihn erstaunt, die ihn anrührt:
An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik –
trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus …
Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
– Hörte Jemand ihr zu? 520
*
Cosima Wagner schweigt. Für sie gibt es nur den Verfasser der »Geburt der Tragödie«, alles Spätere ist Krankheit. Krankheit ist die einzige Rechtfertigung für Verräter. Erst spät lässt sie sich überreden, den »Zarathustra« überhaupt in die Hand zu nehmen, nur probeweise. Wahrscheinlich lässt sie ihn vor Widerwillen gleich wieder fallen: »Da ich von jeher den krankhaften Zustand des Verfassers gekannt, war ich auf Wahnwitz und konfuse Genialität gefaßt. Daß ich es aber bis zum Blödsinn dumm finden würde, ist wider Erwarten.« Wenn sie diesem Buch einen Titel geben sollte, sie wüsste einen: »Die Spasmen der Impotenz«. 521
Am 14. August 1900 schreibt sie an ihren späteren Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain: »Daß noch keiner darauf gekommen ist, sich zu sagen, daß ein Mensch, welcher diejenigen, die ihm nur Gutes getan, verleugnet, ja insultiert, der sein Vaterland schmäht, seine Muttersprache verkennt, ohne irgend etwas wirklich Großes geleistet zu haben, sich als Prophet hinstellt, entweder ein Monstrum oder ein Wahnsinniger sein muß, zeigt uns die jämmerliche Beschaffenheit des Urteilsvermögens in unserer jetzigen Jugend. Es wundert mich auch, daß niemand auf den Gedanken kommt, zu zeigen, woher Nietzsche das alles nahm … Selbst das Wort Übermensch stammt von Goethe!« Das mag so sein, doch es ist eine höchst genaue Übernahme. Bei Goethe steht es für die Ironie des Erdgeistes gegenüber Faust, bei Nietzsche dagegen für die Notwendigkeit, Faust zu werden. Auch hat keiner wie er über die Präposition »über« nachgedacht: Wer sie ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elends begriffen. Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen – also nicht einmal in sich! Das letztere kann Stolz sein. 522 Für Cosima bleibt es Krankheit: »Der arme Mensch war bereits krank, als ich ihn kennenlernte. Er klagte fast beständig über Kopfweh. Wenn nur das Ganze nicht so traurig und in seinen Folgen erschreckend wüst wäre! Am besten, man blickt weg und vergißt.« 523
Elf Tage später stirbt Friedrich Nietzsche in Weimar.
Im letzten Herbst seines bewussten Lebens verfasste er den kürzesten gemeinsamen Nachruf auf Richard Wagner und sich selbst:
Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch an einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder zusammenbringen; und so gewiss Wagner unter Deutschen bloss ein Missverständnis ist, so gewiss bin ich’s und werde es immer sein. – Zwei Jahrhunderte psychologische und artistische Disciplin zuerst , meine Herren Germanen! … Aber das holt man nicht nach. 524
Ihre gemeinsame Geschichte: eine Tragödie, beinahe eine griechische. Sie hätten es wissen können.
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Nachbemerkung
Die Verfasserin bekennt sich zu dem Wagnis, immer wieder vorsätzlich aus der Perspektive der hier Porträtierten gesprochen zu haben. Sie hat dafür auch eine Entschuldigung: die
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