Night School 01 - Du darfst keinem trauen
wollte. Und er ist ein Einzelgänger. Ehrlich gesagt, erstaunt es mich, dass er heute Nacht überhaupt am Weiher war … beziehungsweise gestern Nacht oder …«, sie sah auf die Uhr, »… heute Morgen oder wann auch immer. So was meidet er nämlich sonst. Deshalb halten ihn die Leute für distanziert. Aber er kann sehr nett sein, wirklich.«
Sie gähnte ausgiebig. »Viele Leute wissen, dass er sie nicht mag oder für oberflächlich hält. Er macht daraus kein Geheimnis.«
»Genau das mag ich an ihm«, murmelte Allie, während ihr die Augen zufielen. »Er ist aufrichtig.«
»Aufrichtigkeit hat was für sich«, hatte Jo gesagt und die Lampe ausgeknipst. Ihre letzten Worte schwebten durch die Dunkelheit. »Kann aber auch Nachteile haben.«
Nun, am Morgen danach, rührten sie in ihren Müslischalen und wussten nichts Rechtes zu sagen. Lisa war die Munterste von ihnen – sie hatte das nächtliche Badevergnügen unbeschadet überstanden und war mit Lucas zurück zur Schule gegangen. Sie hatte den Eindruck, dass er sich für sie zu interessieren begann. Aber auch sie war müde.
»Mann, vor heut Abend brauch ich unbedingt noch ein Nickerchen«, sagte sie und stützte den Kopf in die Hand. »Ich bin völlig am Ende.«
»Und ich bin echt am Arsch«, sagte Jo lapidar, während sie nach dem Zucker griff. »Hätte nicht gedacht, dass Schlaf so wichtig ist.«
»Am Arsch trifft es ganz gut«, sagte Allie und nippte gähnend an ihrem heißen Tee. Keiner hatte sie auf gestern Abend angesprochen, auch nicht, als sie in den Speisesaal kam. Vielleicht hatte Jo recht, und es war zu dunkel und wuselig gewesen, als dass jemand ihre Panikattacke mitbekommen hätte.
Traditionell endete der Unterricht am Tag des Sommerballs schon mittags. Am Vormittag gab Allie ihr Bestes, um nicht einzuschlafen, indem sie irgendwelche sinnfreien Notizen in ihr Heft kritzelte.
In Bio ignorierte Carter sie gezielt, und in Englisch döste sie vor Unterrichtsbeginn weg und sah ihn gar nicht hereinkommen. Als sie aufschaute, saß er da, sah sie aber nicht an. Soll mir nur recht sein. Noch acht Stunden, dann tanze ich mit Sylvain . Nicht gerade der richtige Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, wie sie Arm in Arm mit Carter im Wasser gestanden hatte. Nackt.
Sie glättete die Papiere auf ihrem Tisch und zog das Lehrbuch aus ihrer Tasche.
Nein – absolut nicht der richtige Zeitpunkt.
Isabelle hatte ihren Platz am Rand des Tischkreises eingenommen.
Wissend blickte sie in die Runde. »Auweh, ein paar von euch sehen ganz schön müde aus. Schlecht geschlafen?«
Die Schüler rutschten ungemütlich auf ihren Stühlen herum. Jemand kicherte.
»Wie ich höre, hat es gestern Abend am Weiher einen ziemlichen Radau gegeben. Ich hoffe, ihr seid nicht davon gestört worden.«
Einige lachten nervös. Die Rektorin nahm die Brille ab, ihre Miene war undurchdringlich.
»Ich bin sicher, die meisten von euch träumen schon vom ersten Tanz, aber es hilft nichts, wir müssen mit dem Stoff weiterkommen.« Sie öffnete ihr Buch. »Heute, habe ich mir gedacht, wollen wir über die Liebe sprechen. Beginnen wir mit ›Silentium Amoris‹ von Oscar Wilde, ein wunderbares Gedicht über eine heimliche Liebe. Wilde ist euch vermutlich eher als Satiriker ein Begriff, doch hier geht es um eine schlichte Liebesgeschichte, die einfach schön ist.«
Mit ihrer vollen, kräftigen Stimme las sie die beiden ersten Strophen des blumigen Gedichts vor. Allie schaltete beinahe sofort ab und kritzelte schläfrig einen Schmetterling in ihr Heft. Sie widmete sich gerade der Verzierung der Flügel, als sie ihren Namen hörte.
Verwirrt richtete sie sich auf. Alle schauten sie an. »Wie bitte?«, fragte sie und wurde rot.
»Guten Morgen«, sagte Isabelle trocken, während die Klasse feixte. »Ich sagte: Würdest du bitte die dritte Strophe vorlesen?«
Allie stand auf, nahm ihr Buch und räusperte sich. Anfangs las sie zu schnell, doch als die Wörter Sinn bekamen, mäßigte sie ihr Tempo.
Doch hast du wohl in meinem Blick gesehn,
Warum mir Lied und Laute schweigen muss;
Sonst sollten besser scheiden wir und gehn,
Zu Lippen du, voll süßrer Harmonien,
Und ich, ein arm Gedenken großzuziehn
An stummes Lied und ungeküssten Kuss.
Ein unerklärlicher Anflug von Trauer kam über sie. Kurz musste sie gegen die Tränen ankämpfen.
Was ist denn mit mir los?
»Was sagt dir dieses Gedicht, Allie?«
Entsetzt merkte Allie, dass Isabelle sie noch immer ansah, und sie überlegte
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