Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
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HAND- UND KOPFARBEIT
BUCHHÄNDLERIN
Bettina Wassmann, Buchhändlerin u. Verlegerin i. Bremen. 1948 Einschulung i. d. Volksschule Bremen/Horn. 1958 Mittlere Reife. 1958–1961 Ausbildung z. Buchhändlerin, Buchhandelslehre bei Rodewald i. Bremen. 1961–1969 Arbeit als Buchhändlerin i. Wolffs Bücherei, Berlin, Bundesallee 133. Mai 1969 Rückkehr n. Bremen. Juli 1969 Eröffnung d. eigenen Buchhandlung i. Bremen, Am Wall 164. Herausgabe von bibliophilen Büchern i. Eigenverlag. Künstlerische Gestaltung d. einzelnen Buchstaben d. Alphabetes (im Briefmarkenformat auf Bögen). Buchtitel d. Verlages u. a.: Djuna Barnes, Der perfekte Mord; Detlev Claussen, Abschied von gestern. Kritische Theorie heute; Jochen Hörisch, Das Abendmahl, das Geld und die neuen Medien; Hermann Melville, Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall-Street; Oskar Negt, Alfred Sohn-Rethel (h. c.); Alfred Sohn-Rethel, Das Ideal des Kaputten. Bettina Wassmann wurde 1942 i. Plauen im Vogtland geboren (wohin d. Familie sich v. d. Bombardierung Bremens i. Sicherheit gebracht hatte). Ihr Vater war Baumwollhändler (Baumwoll-Börse Bremen), die Mutter Künstlerin. Bettina Wassmann war mit dem marxistischen Philosophen Alfred Sohn-Rethel verheiratet (der 1990 starb).
Zum besseren Verständnis Alfred Sohn-Rethels möchte ich versuchen, ihn in einem Miniaturportrait hier kurz vorzustellen. Er wurde 1899 geboren, war Gelehrter, ohne weltfremd zu sein, Erkenntnistheoretiker und exzellenter Marxkenner. Von allen Marxisten war er wohl der originellste. Seit den 20er Jahren arbeitete er an den Hauptthesen seiner materialistischen Erkenntnistheorie und -kritik, kam aber erst in den 70er Jahren zu Abdruck, Bekanntheit und Ehrungen. Er hat sich weder durch die vernichtende Kritik Horkheimers noch durch das hymnische Lob Adornos von seinen Überlegungen abbringen lassen und arbeitete bis ins hohe Alter als unbeirrbarer Außenseiter an seiner ketzerischen Theorie vom Geld. Mit wahrer Engelsgeduld bewies er seine These, daß sich die Denkform aus der Warenform entwickelt, daß das Transzendentalsubjekt sich der eigentümlichen Form der Ware, des Tauschs und des Geldes verdankt, daß der Ursprung des reinen Denkens in der Warenform liegt und nicht umgekehrt. Er ist mit hartnäckiger Ausdauer der Bildung des Begriffs nachgegangen, dem »Geld als bare Münze des Apriori«, der Tauschabstraktion. Es ist ihm gelungen, das Geheimnis der Transzendentalphilosophie zu entschleiern durch die Entdeckung des Transzendentalsubjekts in der Warenform. Aus dem akribischen Lüften dieses Schleiers besteht sein Lebenswerk.
Der Buchladen von Bettina Wassmann lieg in der Innen-stadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlage, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage übrigens war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands.
Am Wall 164 liegt hinter einem Jugendstilfenster der winzige Buchladen mit seiner kunstvoll dekorierten Auslage. Die seitliche Glastür ist schwer und schließt nicht von selbst. Innen ist es eng aber nicht überfüllt. Es gibt keine Bücherstapel in der Ecke, die jeden Moment umzufallen drohen, es ist nicht kruschelig. Jedes Ding scheint seinen Platz gefunden zu haben. In den schwarzen, deckenhohen Regalen stehen, sorgfältig ausgewählt und präsentiert, laufende Titel und Neuerscheinungen. Daneben die Bücher aus der eigenen Produktion und selbstverständlich die kritischen Klassiker wie Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse, Lukács, Bloch, Sohn-Rethel. In einer robusten Fächermappe sind die Briefmarkenbögen von Bettinas »Alphabete« einsortiert, hinter den Glasscheiben der schwarzen Vitrinenschränke hängen Zeitungsausschnitte und Fotos; ich erkenne Meret Oppenheim und Alfred Sohn-Rethel. Zum Verpacken der Bücher gibt es eine große Papierrolle in einem zierlichen Metallgestell. Wir werden freundlich aufgefordert, in einer Lücke Platz zu nehmen. Bettina Wassmann füllt die Kaffeetassen aus einer Thermoskanne, stellt sie auf die Marmorplatte des Verkaufspultes neben den Computer und erzählt, daß sie nun schon 36 Jahre lang
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