Night School 01 - Du darfst keinem trauen
aufgefallen, und nun fragte sie sich, wie sie ihn hatte übersehen können.
»Noch irgendwelche Fragen?«
Allie wollte schon den Kopf schütteln, hielt dann aber inne. Sie sah auf ihre Füße und zupfte am Saum ihres T-Shirts. Dann schaute sie auf und sagte zögernd: »Sie sind doch die Internatsleiterin, oder?«
Isabelle sah sie leicht verdutzt an und nickte.
»Und wieso machen Sie dann das alles?« Allie machte eine ausholende Geste.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Isabelle perplex. »Wieso mache ich was ?«
Allie versuchte eine Erklärung. »Mich an der Tür abholen, mir mein Zimmer zeigen, mich durchs Haus führen …«
Isabelle zögerte mit der Antwort. Sie hatte die Arme locker vor der Brust verschränkt. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Allie, deine Eltern haben mir eine ganze Menge über dich erzählt. Ich weiß, was passiert ist, und die Sache mit deinem Bruder tut mir sehr leid. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht, und mir ist klar, wie leicht man sich in dieser … scheußlichen Situation verfangen kann und nie wieder rauskommt. Aber du darfst nicht zulassen, dass das, was dir passiert ist, dein Leben zerstört. Du hast eine Menge drauf, und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dir das bewusst wird, und dir dabei zu helfen, wieder zu dir selbst zu finden.«
Sie ging zur Tür und ließ für kurze Zeit ihre Hand auf der Klinke ruhen.
Dreimal aus- und zweimal einatmen.
»Ich schicke die Vertrauensschülerin zu dir hoch, damit sie sich vorstellt und alle deine Fragen beantwortet«, sagte Isabelle. »Um sechs, da bleibt euch noch genügend Zeit vor dem Abendessen, um alles zu regeln. Die Essenszeiten hier sind streng – bitte sei pünktlich!«
Behutsam machte sie die Tür hinter sich zu, dann rauschte sie mit dem ihr eigenen Tempo ab. Allie atmete tief durch.
Nun, da sie den Raum für sich hatte, kam sie endlich zum Nachdenken. Wieso hatten ihre Eltern Isabelle von Christopher erzählt? Das war doch immer eine reine Familienangelegenheit gewesen. Und was für eine seltsame Schule war das? Wieso war ihnen auf dem Weg hierher kein einziger Schüler begegnet? Das Gebäude wirkte wie ausgestorben.
Sehr merkwürdig.
Sie wuchtete ihre Tasche aufs Bett, machte den Reißverschluss auf und begann ihre Sachen auszuräumen. Die Bücher ließen sich in dem schmalen Regal neben dem Schreibtisch verstauen, die Klamotten kamen in die Kommode. Doch als sie die Schubladen aufmachte, stellte sie fest, dass darin schon jede Menge T-Shirts, Shorts und Pullover lagen. Sie waren entweder weiß oder nachtblau und hatten das Cimmeria-Wappen auf der Brust.
Neugierig öffnete Allie ihren Kleiderschrank und fand lauter Röcke, Blusen und Jacken, alle im Stil der Schuluniform. Ganz hinten bekamen ihre Finger etwas Leichtes und Hauchdünnes zu fassen. Als sie die Kleiderbügel herauszog, kamen fein gewirkte Kleider in verschiedensten Farben zum Vorschein. Isabelle hatte etwas von Bällen erwähnt, aber sie hatte nicht dazugesagt, dass das Internat die Abendgarderobe dafür stellen würde. Sie hielt ein dunkelblaues Samtkleid in die Höhe – es sah sehr edel aus, reichte bis zum Knie und hatte einen raffinierten, perlenbesetzten V-Ausschnitt.
Verdutzt starrte sie das Kleid an. Was hatte so was hier zu suchen?
Sie war noch nie auf einer richtigen Tanzveranstaltung gewesen – an ihren bisherigen Schulen hatte es derlei nicht gegeben. Die Vorstellung, ein teures Abendkleid zu tragen und damit auf einen richtigen Ball zu gehen, jagte ihr einen nervösen Schauer über den Rücken. Sie konnte ja nicht mal tanzen.
Sie strich über den geschmeidigen Stoff und versuchte sich vorzustellen, wie sie an Canapés knabberte und dabei Small Talk machte. Sie lachte bitter.
Nicht meine Welt.
Allie hängte die Kleider zurück in den Schrank, schloss die hölzerne Tür und setzte sich an den kleinen Holzschreibtisch vor dem Fenster. Von ihrem Stuhl aus sah sie blauen Himmel und grüne Baumwipfel. Jetzt am Nachmittag war es etwas kühler, und die Luft roch nach Kiefer und Sommer. Sie öffnete den Umschlag und zog ein Bündel Papiere hervor. Isabelle hatte keinen Scherz gemacht, als sie von »jede Menge Informationen« sprach.
Das erste Blatt war ein Gebäudeplan, auf dem die Lage der Schlaftrakte, Klassenzimmer, Speisesäle und Lehrerunterkünfte skizziert war. Auf dem zweiten Blatt stand ihr Stundenplan: Englisch, Geschichte, Biologie, Algebra, Französisch – die üblichen
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