Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
ungeduldig an. Seine Haare standen zu Berge, als hätte er sie sich die ganze Zeit gerauft. Und der Schreibtisch, an dem er arbeitete, war so voller Papier, dass ein paar Blätter auf den Boden gesegelt waren, wo sie einen unordentlichen Haufen bildeten.
»’tschuldigung …« Allie wich so schnell zurück, dass sie beinahe gestolpert wäre. »Ich such nur jemanden.«
Mit einem Brummen, das wie ›Dämliche Frischlinge‹ klang, schlug er ihr grußlos die Tür vor der Nase zu.
Danach suchte sie im Aufenthaltsraum und im Rittersaal und selbst im Klassenzimmertrakt eine Etage höher, der jetzt, nach Unterrichtsschluss, dunkel und verlassen dalag.
Kein Lebenszeichen, nirgends.
Schließlich setzte sie sich in einen der schweren Ledersessel im Aufenthaltsraum und wartete. Früher oder später suchte jeder dort; die anderen würden sie schon finden. In ihrem Kopf wirbelten all die neuen Informationen und Gedanken umher: Orion und Lucinda, Jules und Carter.
In dem großen Saal, wo die Schüler ausgelassen Spiele spielten, sich unterhielten oder lernten, ging es wie immer reichlich geräuschvoll zu. Ganz in der Nähe spielte eine Gruppe jüngerer Schüler johlend Poker, wobei es offenbar dazugehörte, sich gegenseitig des Schummelns zu bezichtigen und lauthals die Abstammung des Gegenübers in Zweifel zu ziehen. Doch Allie nahm von dem Gelärme keine Notiz.
Tief in ihren Sessel gekauert, saß sie da und wartete. Es dauerte eine Ewigkeit, doch endlich kam Zoe durch die Tür geschossen wie ein Spatz, der sich von der Dachkante stürzt.
Im Nu hatte ihr wacher Blick Allie erspäht, die sofort aufsprang. Zoe wirkte erleichtert.
»Ach, hier bist du! Sylvain und Rachel kriegen schon die Krise. Beeil dich!« Sie machte kehrt und trabte in flottem Tempo durch den großen Flur. Allie eilte ihr sofort nach, während sie noch versuchte, ihr ungeöffnetes Geschichtsbuch in die Tasche zurückzustopfen.
Als sie das Buch endlich verstaut hatte und aufsah, merkte sie, dass Zoe den Haupteingang ansteuerte. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie eine Jacke und Handschuhe trug.
»Ihr seid draußen?«, fragte sie überrascht.
»Ja klar.« Zoe machte sich an dem komplizierten, alten Eisenschloss zu schaffen. »Sylvain meinte, bei dieser Saukälte sucht uns da bestimmt keiner.«
Scheppernd gab das Schloss nach, und Zoe zog mit beiden Händen die schwere Tür auf. Die Winterluft traf sie wie ein Faustschlag.
»Verstehst du, was ich meine?«, sagte Zoe und hüpfte auf und ab. »Brrrr.«
»Sehr erfrischend«, erwiderte Allie trocken. Sie fragte sich, wie lange sie es da draußen ohne Mantel aushalten würde, doch noch mehr Zeit verplempern, um nach oben zu rennen und ihre warmen Sachen zu holen, wollte sie auch nicht.
»Wie ein Eiswürfel im Gesicht«, stimmte Zoe zu. Dann sprang sie die Treppe hinunter und lief über die matschige Wiese.
Der Abend war klar; silberweiße Sterne überzogen den schwarzen Himmel wie Raureif.
Während sie einen Pfad durch den Wald einschlugen, zog Allie die Ärmel ihres Pullis über die klammen Finger und rannte schneller.
Zwischen den Bäumen erschien plötzlich wie ein Gespenst die Spitze des Pavillons. Die Dachfiale schien über den Kiefern zu schweben. Als sie um die Kurve bogen, lag das ganze Gebäude vor ihnen.
Die weißen Steinwände waren mit aufwendigen Mosaiken aus Keramikfliesen dekoriert, das wusste Allie, doch in der Dunkelheit war alles grau. Als sie näher kamen und, zwei Schritte auf einmal nehmend, die Steintreppen hinaufsprangen, vernahmen sie aufgeregte Stimmen.
»Allie ist da«, verkündete Zoe, deren Atem als weiße Wolke erschien. »Sie war am Lernen.«
»Stimmt gar nicht«, leugnete Allie. »Ich hab … nachgedacht. Und euch gesucht hab ich auch.«
»Hier wird nie im Leben einer nach uns suchen, haben wir uns gedacht«, ließ sich Nicoles französischer Akzent aus der Finsternis vernehmen. Allie konnte von ihr nur ein schlankes Bein in dunklen Leggins erkennen, das von dem steinernen Geländer herunterbaumelte, auf dem Nicole saß.
»Ich hab schon gedacht, du wärst entführt worden«, sagte Rachel und sah sie vielsagend an. Dann erst bemerkte sie Allies Aufzug und wechselte das Thema. »Wo hast du denn deinen Mantel?«
»Zoe hat vergessen zu erwähnen, dass ihr draußen seid«, sagte Allie. »Aber ist schon okay. Mir ist total warm vom Rennen.«
In Wahrheit spürte sie bereits den kalten Schweiß auf der Haut, doch sie wollte sich auf gar keinen Fall von den anderen
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