Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
so gefühlt hast«, antwortete Sylvain. Er wählte seine Worte sorgfältig. »Aber ich finde, du hättest die Sache erst durchdenken müssen. Du hättest zu mir kommen können. Ich hätte dir die Wahrheit gesagt.«
»Wirklich?«, fragte sie mit leichter Bitterkeit in der Stimme. »Wärst du nicht eher zu Isabelle gegangen und hättest ihr verraten, was ich vorhabe? Um mich zu schützen?«
»Hab ich je schon mal so was gemacht?« Er sah ihr fest in die Augen, und Allie begriff: Nein, das hatte er nicht. Noch nie.
»Nein«, sagte sie. »Hast du nicht.«
Er sah sie immer noch an, so als wartete er darauf, dass es bei ihr klick machte – dass ihr ein Licht aufging. Oder als hätte er noch mehr zu sagen. Sie standen jetzt an der Treppe, und als Allie nach dem Geländer griff, streifte sie dabei aus Versehen seine Hand. Die Berührung war wie ein Schock – hastig riss sie ihre Hand weg.
»’tschuldigung«, sagte sie mit heißen Wangen.
»Wofür?«, fragte er. »Dafür, dass du mich berührt hast? Ist ja nicht verboten …«
Seine Stimme klang sanft, spielerisch, aber irgendwie war das alles zu viel für Allie, und sie eilte überstürzt die Treppe hinauf.
»Was ist denn bloß los, Allie?«, fragte Sylvain. Sie waren mittlerweile im Erdgeschoss angelangt, und seine Stimme wurde von den hohen Wänden der Eingangshalle zurückgeworfen. »Wir haben uns doch schon anderswo angefasst als an den Händen.« Sofort waren da wieder die Bilder von jenem Abend: der fallende Schnee, sein warmer Kuss auf ihren Lippen, ihre Finger in seinem Haar. Sie schüttelte den Kopf, wie um die Bilder zu verscheuchen.
»Es geht nicht«, sagte sie. »Ich kann das nicht.«
»Wieso denn nicht?«, fragte er. Sein Gesichtsausdruck – erstaunt und ein wenig verletzt – fuhr ihr direkt in die Magengrube. »Du weißt, dass ich dich mag. Und ich dachte, dass du mich auch magst. Aber plötzlich ist Schluss, und du redest nicht mal mehr mit mir.« Als sie nichts sagte, kam er einen Schritt näher. »Du kannst dich nicht auf ewig einsperren wegen dem, was passiert ist, Allie. Du musst weiterleben.«
»Gabe hat schon mal versucht, dich meinetwegen umzubringen, Sylvain«, sagte sie. »Das reicht. Schluss. Niemand stirbt mehr meinetwegen.«
Er sah sie verblüfft an. »Darum geht’s dir also? Du versuchst, mich vor Gabe und Nathaniel zu beschützen?« Er hielt abwehrend die Hände in die Höhe, damit sie ihn anschaute. »Allie, ich bin nicht Jo!«
»Das weiß ich«, blaffte sie. »Aber kapierst du das nicht? In diesem Gebäude gibt es jemanden, der mitgeholfen hat, Jo umzubringen, und ich muss rausfinden, wer das ist, und dafür sorgen, dass er seine gerechte Strafe kriegt. Und ich möchte einfach nicht, dass du dich einmischst und dir was passiert und … mich ablenkst!«
Seine Augen blitzten. »Du willst also alles alleine machen, und ich lenke dich bloß ab?«, fragte er und strich sich durch die Haare. »Weißt du was? Du rennst immer noch vor allem weg, Allie«, sagte er wütend. »Du merkst es bloß nicht.«
Mit diesen Worten ließ er sie einfach stehen und stolzierte davon.
Auf dem ganzen Weg hoch zum Mädchentrakt versuchte Allie, sich das Gespräch mit Sylvain so zurechtzulegen, dass es weniger schlimm klang.
Das Schlimmste war, dass Sylvain in gewisser Weise recht hatte: Sie versuchte tatsächlich, die Sache allein durchzuziehen. Sie hatte Angst, seine Hilfe – oder die von irgendjemand anderem – anzunehmen. Wenn er in der Nähe war, wurde alles immer so verwirrend, und sie konnte sich nicht konzentrieren. Am Ende würden sie sich nur wieder küssen. Und das war einfach nicht drin, solange der Spion nicht enttarnt war.
Außerdem war die Sache mit Carter noch nicht gegessen – jedenfalls noch nicht ganz. Nachdem sie heute Morgen mit ihm geredet hatte, hoffte sie irgendwo in ihrem Herzen, dass alles ein schrecklicher Irrtum war und sie die Sache irgendwie wieder hinbekommen würden.
Obwohl das jedes Mal, wenn sie ihn mit Jules zusammen sah, ein bisschen weniger vorstellbar wurde.
Die Gummisohlen ihrer Schuhe quietschten, als sie den langen Flur entlangging. Sie seufzte.
Was für ein Schlamassel.
In ihrem Zimmer angekommen, ließ sie ihre Tasche auf den Boden fallen. Es roch stickig. Sie ging zum Fenster, beugte sich über den Schreibtisch und löste den Riegel des Fensterladens. Ein Stoß kalter, frischer Luft kam herein. Allie schloss die Augen und atmete tief ein. Sie musste einen klaren Kopf bekommen.
Es war Vollmond –
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