Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
Stock schlugen sie den Weg zu den Klassenräumen ein.
Als nichts mehr von ihnen zu hören war, wandte Allie sich wieder Sylvain zu. Er sah sie an, und ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
»Du wirst langsam echt zum Profi in so Sachen«, flüsterte er und sah stolz und zugleich bedauernd drein.
»Ich weiß«, sagte sie.
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Vierundzwanzig
Am nächsten Morgen stand Allie in aller Herrgottsfrühe im Garten und rammte ihre Schaufel in den matschigen Boden. Der Regen tropfte ihr in die Augen, während sie versuchte, die Furche vor ihr tiefer und gerader zu machen.
Eine Reihe weiter stand Carter und tat dasselbe, nur schneller und besser.
Es regnete nun schon seit einer halben Stunde. Eisig und unbarmherzig tröpfelte es vor sich hin – es war ein Elend: so nasskalt, dass es einem durch alle Kleiderschichten bis auf die Knochen ging.
Was für eine sinnlose Zeitverschwendung. Wir reißen hier draußen unseren Arrest runter, wo wir doch drinnen so schön weiter nach dem Spion suchen könnten. Ohne uns den Arsch abzufrieren
.
Allie zog sich die Wollmütze über die Ohren und hätte sie sich am liebsten übers ganze Gesicht gestülpt.
Sie hielt einen Moment inne und sah Carter bei der Arbeit zu. Da er hier aufgewachsen war – er war mehr oder weniger von Mr Ellison großgezogen worden –, hatte er viel mehr Übung als sie, und doch war er nie viel weiter als sie. Allie hatte das Gefühl, dass er sich bremste, um in ihrer Nähe zu bleiben. Trotzdem hatte er den ganzen Morgen über noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt.
Das macht mich wahnsinnig.
Der Abend mit Sylvain hatte sie noch einmal alles überdenken lassen. Mit Sylvain war es anders, als es je mit Carter gewesen war. Sylvain glaubte unerschütterlich daran, dass sie, Allie, ihre Sache schon gut machen würde. In seiner Gegenwart hatte sie Selbstvertrauen.
Seine Aufmerksamkeit war wie ein heller Lichtstrahl, der auf sie schien – und sie wärmte. Und in dem sie wachsen und gedeihen konnte.
Nachdem die Wachen verschwunden waren, hatten sie sich eilig in ihren jeweiligen Schlaftrakt zurückgeschlichen. Zum Reden blieb keine Zeit. Doch wenn sie an den Moment im Flur dachte, als sich ihre Hände berührt hatten … dann machte ihr Herz einen Sprung. Wie konnte so etwas Einfaches wie eine Berührung eine solche Wirkung auf sie haben? Aber so war das eben bei Sylvain. In der Zeit vor Jos Tod hatte er sie manchmal nur anschauen müssen, und schon war es um sie geschehen.
Romantische Liebe.
Carters Spaten schnitt mit einem satten Geräusch in den Schlamm und erinnerte sie daran, warum sie eigentlich hier war.
Seufzend nahm sie die Schaufel in die Hand und stocherte in der Erde herum. Regentropfen hefteten sich an ihre Wimpern, sodass sie Carter wie durch ein Prisma sah. Seine Wangen waren rot vor Kälte, und er war klitschnass. In der ganzen Zeit sah er nicht ein Mal zu ihr auf.
Sie stieß den Spaten in die Erde. Heftiger diesmal.
Warum musste mit Carter immer alles so furchtbar
kompliziert
sein? Seine Gefühle waren ein einziges Labyrinth aus Vertrauen und Misstrauen, Glaube und Zweifel.
Zum Beispiel heute. Da waren sie nun schon allein im Garten und hätten eine Menge zu bereden gehabt. Bestimmt hatte Sylvain ihm gestern Abend noch von dem Schlüssel erzählt. Sie hatten vereinbart, dass er Carter informieren würde und Allie die Mädchen.
Und doch hatte Carter die Sache heute Morgen mit keinem Wort erwähnt. Um genau zu sein, hatte er noch gar kein Wort über irgendwas verloren.
So konnte es nicht weitergehen. Es musste etwas geschehen.
»Willst du mich jetzt den ganzen Tag ignorieren?«, fragte sie schließlich. »Oder nur hier, bei diesem Scheißwetter, wo wir allein sind und den verkackten Schlamm schippen?«
Carter sah nicht von seiner Arbeit auf. »So was sagt man nicht.«
»Kann schon sein«, erwiderte sie und stieß wütend den Spaten in den Boden. »Hauptsache, man sagt überhaupt was!«
»Na schön«, seufzte Carter. Er richtete sich auf, stützte sich auf seinen Spaten und sah sie reserviert an. »Hi, Allie. Wie geht’s dir denn so heute Morgen?«
»Ausgezeichnet, Carter. Könnte nicht besser sein.«
Der Regen rann ihr übers Gesicht und sickerte unter ihrem Schal bis zu den Schultern durch. Es war zu viel.
»Ich mach jetzt Pause, sonst hol ich mir noch ’ne Lungenentzündung«, sagte sie und schaute ihn an. Als er keine Antwort gab, versuchte sie es noch einmal: »Willst du mitkommen? Ich geh nur kurz da rein.«
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