Night School. Der den Zweifel sät (German Edition)
wollte die Kluft unbedingt überwinden – nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch, weil es für Jo besser war.
Wenn die Aussicht auf den Ball mir schon Angst macht, wie schlimm muss es dann erst für Jo sein?
Sie beschloss, den ersten Schritt zu tun. Am nächsten Tag nach dem Abendessen erspähte sie Jo in der Bibliothek, wo sie allein an einem Tisch saß und lernte. Der Schein der Messinglampe auf dem Schreibtisch umgab ihr kurzes, blondes Haar wie ein Heiligenschein.
»He, du«, flüsterte Allie einem Schüler in der Nähe zu. »Leihst du mir mal ein Blatt Papier?«
Der Schüler war ganz aufgeregt, dass sie ihn angesprochen hatte, und reichte ihr ein Blatt.
Allie machte eine ungeduldige Geste. »Stift.«
Ohne Zögern gab der Schüler ihr den Stift, mit dem er gerade geschrieben hatte, und wartete, während sie eine kurze Nachricht hinkritzelte.
J
Ich warte draußen. Ich muss mit Dir reden. BITTE .
Ich vermisse Dich.
Es tut mir leid.
Kuss, A
»Danke«, sagte sie und gab den Stift zurück. »Tu mir einen Gefallen. Bring den Zettel zu dem Mädchen da.« Sie deutete auf Jo.
Der Schüler sprang so schnell auf, dass er fast seinen Stuhl umgestoßen hätte.
»Ruhig, Brauner«, sagte Allie und hob eine Braue. »Wir wollen doch nicht, dass es Verletzte gibt.«
Dann lief sie hinaus in den Flur, um dort auf Jo zu warten.
Als dieser zehn Minuten später noch nicht aufgetaucht war, rutschte Allie das Herz in die Hose.
Sie wird mir nie vergeben.
Einen Fuß angewinkelt, lehnte Allie sich gegen die Wand und ließ den Kopf hängen.
»Aaaach-tung!« Jos glasklare, akzentfreie Stimme war so unverkennbar, dass Allie verstohlen lächeln musste. Das klang doch ganz wie die alte Jo. Die gesunde Jo.
»Da bist du ja.«
Jo verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie mürrisch an. Doch zum ersten Mal seit Wochen sah Allie wieder einen kleinen Schalk in ihren Augen aufblitzen.
»Ich bin hier, um deine unterwürfige Entschuldigung anzuhören.«
»Es ist alles meine Schuld«, sagte Allie. »Ich bin eine Idiotin. Du solltest mir die Freundschaft aufkündigen und dich mit der bösen Katie anfreunden. Sie hat dich mehr verdient als ich.«
Jo musste sich anstrengen, ernst zu bleiben. »Nicht schlecht für den Anfang. Weiter, bitte.«
»Wenn, dann hätte ich als Erste dich einweihen müssen. Es war verrückt von mir, das nicht zu tun, und ich verspreche« – Allie hielt die rechte Hand hoch, als stände sie vor Gericht – »dass ich nie wieder ein wichtiges Geheimnis für mich behalten werde.«
Jo schenkte ihr ein reizendes Lächeln. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.«
»Kannst du mir bitte, bitte,
bitte
verzeihen?«
»Natürlich kann ich das«, sagte Jo. »Oder hältst du mich für ’n Monster?«
»Gott sei Dank!« Allie stürzte sich auf sie und umarmte sie heftig. »Ich hätte es nicht länger ausgehalten.«
»Ist schwer, ohne mich zu leben, was?«, sagte Jo. »Ich hab dich auch vermisst. Aber keine Geheimnisse mehr, okay? Sag mir in Zukunft, was los ist. Ich werde auch nicht mehr durchdrehen und mit einer Pulle Wodka auf dem Dach rumspazieren.«
»Als ob es je dazu kommen würde!«, erwiderte Allie.
In Übungsraum Eins hing ein Plan an der Wand, auf dem die Zeiten eingetragen waren, zu denen die Schüler, parallel zu angeheuerten Sicherheitsleuten, auf Patrouille gehen mussten. Die übrige Zeit trainierten sie intensiv und praxisnah: Wie man flieht, wie man einen Alarm auslöst, wann man zusammenbleiben muss und wann sich trennen. Wie man mit dem Messer kämpft. Oder mit der Pistole.
Allie musste demonstrieren, wie sie Gabe den Pfahl in die Schulter gerammt hatte, woraufhin sämtliche Night-Schooler in den Wald ausschwärmten mit dem Auftrag, anhand von Allies Beschreibung einen spitzen Stock zu finden, der sich als Waffe eignete.
Allies Unbehagen hatte sich trotzdem nicht gelegt, weshalb sie sich nur noch mehr aufs Training konzentrierte. Schließlich wusste sie besser als alle anderen, wie wichtig diese Fähigkeiten sein konnten.
Am Abend von Allies und Zoes erster Patrouille waren sie beide so nervös, dass sie viel zu früh zu ihrer Neun-Uhr-Schicht eintrafen. Ihre Ausrüstung hing schon an der Garderobenwand. Draußen war es so kalt, dass man ihnen schwarze Thermoleggings und Funktionsshirts sowie zusätzlich lange schwarze Seidenunterwäsche ausgehändigt hatte. Dazu schwarze Mützen und Handschuhe und schwarze Laufschuhe.
Als sie vor einem großen Spiegel die ungewohnte
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