NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
nachgegangen. Das Weinen kam direkt vom Fluss. Wir müssen umkehren. Bitte, halt an!«
»He, he, beruhig dich«, erwiderte er. »Ich gehe jede Wette ein, dass ich weiß, was du gehört hast. Eine Ohreule. Sie nisten hier in der Gegend, und ihr Ruf klingt wie ein Stöhnen, uh-uh-uh«.
Gillian glaubte nicht, dass er recht hatte. »Ich war auf dem Heimweg von der Schule. Es war noch zu hell für eine Eule.«
»Okay, dann war es eben eine Waldtaube. Die macht uh-äh, wuh, zvuh. Oder eine Katze; die klingen auch manchmal wie Kinder. Hör mal«, fügte er mit einem beinahe weisen Unterton hinzu, als sie abermals den Mund öffnete, »wenn wir dich nach Hause geschafft haben, können wir die Polizei in Houghton anrufen, damit sie der Sache mal nachgehen. Aber ich werde nicht zulassen, dass ein klei... ein Mädchen erfriert, nur weil es mehr Mut als Verstand hat.«
Einen Moment lang verspürte Gillian das starke Verlangen, ihn in dem Glauben zu lassen, sie besitze Mut oder Verstand. Aber sie sagte: »Das ist es nicht. Es ist nur - ich habe schon so viel durchgemacht, um dieses Kind zu finden. Ich wäre beinahe gestorben - ich denke, ich bin gestorben. Ich meine -hm, ich bin nicht gestorben, aber mir ist ziemlich kalt geworden, und... und es sind Dinge passiert, und ich habe begriffen, wie wichtig das Leben ist...«
Sie verhaspelte sich und brach ab. Was redete sie da? Jetzt würde er sie für eine Spinnerin halten. Und überhaupt, die ganze Sache musste ein Traum gewesen sein. Während sie mit einem Handtuch um den Kopf in einem Mustang saß, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass alles real gewesen war.
Aber David warf ihr einen Blick zu, in dem sich Verwirrung und Verständnis mischten.
»Du bist beinahe gestorben?« Er schaute wieder auf die Straße und bog in die Hazel Street ein, in der sie beide wohnten. »Das ist mir auch einmal passiert. Als ich klein war, hatte ich eine Operation...«
Er brach ab, als der Mustang auf einer vereisten Fläche ins Rutschen geriet. Einen Moment später hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle und bog in Gillians Einfahrt ein.
Es ist dir auch passiert ?
David parkte und war aus dem Wagen, bevor Gillian etwas erwidern konnte.
Dann öffnete er die Beifahrertür und hielt kurz inne.
»Erst mal muss dieses Zeug hier aus dem Weg«, sagte er und schob ihr Haar zurück, als sei es ein Vorhang aus Spinnweben. Etwas in seiner Stimme brachte Gillian auf den Gedanken, dass ihm ihr Haar gefiel.
Sie spähte durch eine Lücke in dem Vorhang zu ihm empor. Seine Augen waren dunkelbraun und hatten normalerweise etwas beinahe Raubvogelhaftes, aber als ihre Blicke sich jetzt trafen, veränderten sie sich. Sie wirkten verblüfft und fragend. Als sehe er etwas in ihren Augen, das ihn überraschte und eine Saite in ihm zum Schwingen brachte.
Gillian war selbst ein wenig verwirrt. Ich glaube nicht, dass er wirklich so ein harter Bursche ist, dachte sie, als so etwas wie ein Funke zwischen ihnen aufzuglimmen schien. Er ist mir gar nicht so unähnlich; er ist...
Plötzlich wurde sie von einem heftigen Zittern geschüttelt.
David blinzelte und schüttelte den Kopf. »Wir müssen dich ins Haus schaffen«, murmelte er.
Und dann schwebte sie über dem Gehsteig, immer noch zitternd. Sie wurde den Weg zum Haus hinauf getragen.
»Du solltest im Winter nicht zu Fuß zur Schule gehen«, sagte David. »Von jetzt an werde ich dich immer fahren.«
Gillian war sprachlos. Einerseits sollte sie ihm wahrscheinlich sagen, dass sie nicht jeden Tag zu Fuß ging. Andererseits, wem wollte sie etwas vormachen? Allein der Gedanke daran, mit ihm zu fahren, genügte, um ihr Herz wie wild hämmern zu lassen.
Über all diesen Gedanken und in dem Hochgefühl, getragen zu werden, fiel Gillian ihre Mutter erst wieder ein, als er die Haustür öffnete.
Sie geriet in Panik.
Oh Gott, David darf sie nicht sehen -aber vielleicht wird ja alles gutgehen.
Wenn es nach Essen roch, bedeutete das, dass alles gut war. Wenn nicht, war es einer von Moms schlechten Tagen.
Es roch nicht nach Essen, als David in den dämmrigen Flur trat. Und es gab auch ansonsten keine Lebenszeichen -alle Lichter im unteren Stockwerk waren ausgeschaltet. Das Haus war kalt und leer, und Gillian wusste, dass sie David loswerden musste.
Aber wie? Als er sie weiter hineintrug, fragte er: »Sind deine Eltern nicht zu Hause?«
»Wahrscheinlich nicht. Dad kommt meist nicht vor sieben heim.« Es war nicht direkt eine Lüge. Gillian betete
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