Nightschool. Du darfst keinem trauen
richtig super. Dass hier alles so anstrengend ist und so skurril, das gefällt mir. Und wie krass die Lehrer zum Teil drauf sind. Das passt irgendwie. Seitdem geht’s mir eigentlich ganz gut. Im Grunde sogar super. Als ob ich genau am richtigen Ort wäre.«
Allie stützte das Kinn auf die Knie und dachte nach. »Mein Leben war in letzter Zeit irgendwie … ziemlich verrückt.« Sie stockte, nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Bis vor anderthalb Jahren war ich, glaub ich, die perfekte Tochter. Ich hatte super Noten, meine Eltern waren stolz auf mich. Und dann war das alles von einem Tag auf den anderen … einfach vorbei.«
Sie hielt inne und sah zu Jo auf. »Die Geschichte habe ich noch nie jemandem erzählt. Noch keinem.«
Jo nickte und wartete.
Allie holte tief Luft. Dann sprudelte es aus ihr heraus. »Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause, und die Polizei war da. Meine Mutter hat geweint, und mein Vater hat den Polizisten angebrüllt, obwohl er am liebsten wohl auch geheult hätte. Das totale Chaos. Mein Bruder war verschwunden. Und sie haben ihn nie gefunden.«
Jo griff nach ihrem Arm. »Oh Gott, Allie! Das ist ja furchtbar! Ist er …?«
»Gestorben? Keiner weiß es. Wir haben nie wieder was von ihm gehört.«
»Das begreife ich nicht. Was war denn passiert?«
Allies Stimme hatte sich nun etwas beruhigt. »Weißt du, Christopher und ich, wir hatten ein superenges Verhältnis. Er war immer mein bester Freund, mein gesamtes Leben lang. Wir haben uns nie gestritten. Wir haben die ganze Zeit zusammen abgehangen. Er war zwar zwei Jahre älter als ich, aber immer total geduldig mit mir. Er war nicht so schnell genervt von mir wie andere große Brüder von ihren kleinen Schwestern. Als ich klein war, hat er mich jeden Tag von der Schule abgeholt und nach Hause gebracht. Er hat mir bei den Hausaufgaben geholfen und mit mir zusammen ferngesehen. Meine Eltern arbeiten ziemlich viel, aber das hat mir nie was ausgemacht, weil ja Christopher immer da war. Und selbst als ich älter wurde, hat er nach mir gesehen. Ist einfach so nach der Schule aufgekreuzt, als wär’s rein zufällig. Und er hat immer zur selben Zeit Hausaufgaben gemacht wie ich, sodass er mir immer helfen konnte, wenn es irgendwo hakte.
Ungefähr sechs Monate bevor er verschwunden ist, begann er, sich komisch zu benehmen. Er kam abends spät nach Hause, fing Streit mit Mum und Dad an. Er war nie da, und wenn er da war, hat er nichts gesagt. Ich hatte das Gefühl, ihn zu verlieren. Wenn ich ihn gefragt habe, wie es ihm geht, ist er weggelaufen. Also, er ist dann wirklich aufgestanden, aus dem Haus gegangen und stundenlang nicht zurückgekommen. Seine Noten sind von total super auf ganz schlecht abgestürzt. Meine Eltern sind völlig durchgedreht, aber sie konnten irgendwie nichts machen. Er wollte sich nicht helfen lassen.«
Sie machte eine Pause und dachte an die endlosen Streitereien und die knallenden Türen. Ein Nachtvogel sang eine aufwendige Melodie.
Als sie wieder zu sprechen begann, war ihr Tonfall emotionslos. »Er hat mir eine Nachricht hinterlassen. Meine Eltern wollten mir nicht sagen, was darauf stand, aber ich habe meine Mutter belauscht, wie sie eines Tages jemandem am Telefon davon erzählt hat. Sie konnte den Brief auswendig. So was Gemeines hatte ich noch nie gehört: ›Ich haue ab. Ich bin nicht verletzt und nicht auf Drogen. Ich will einfach nicht mehr Teil dieser Familie sein. Ich liebe euch nicht. Keinen von euch. Verfolgt mich nicht. Versucht nicht, mich zu finden. Ich brauche eure Hilfe nicht. Ihr werdet mich nie wiedersehen.‹«
»Oh, mein Gott«, flüsterte Jo. Als Allie aufblickte, sah sie, dass Jo Tränen in den Augen hatte, die sie mit dem Handrücken abwischte. »Mensch, Allie.«
Allie konzentrierte sich darauf, die Geschichte mit Distanz zu erzählen, so als wäre das alles jemand anderem passiert. Was sie sich selber manchmal einredete.
»Und ab da ging alles schief. Ich hatte so was wie einen Nervenzusammenbruch, würde ich sagen. Ich konnte buchstäblich nicht mehr sprechen. Ich habe tagelang in Christophers Zimmer gesessen. Bin monatelang nicht in die Schule gegangen. Sie haben mich zum Psychiater geschickt, aber den habe ich gehasst. Meine Eltern haben sich andauernd gestritten, und ich war nur noch so … ein Störenfried, mit dem sie sich herumschlagen mussten.
Es war, als hätte er bei seinem Abschied den Stecker gezogen und unserem Leben komplett den Strom abgestellt. Meine Eltern
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