Nightschool. Du darfst keinem trauen
um darüber zu streiten, schien ihr wenig sinnvoll.
Widerwillig stimmte sie zu: »Na schön. Gute Nacht, Sylvain.«
Als sie sich zum Gehen wandte, fasste Sylvain sie am Handgelenk und hielt sie sanft zurück.
»Was? Kein Gutenachtkuss?«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Kein ›Danke, dass du mich gerettet hast‹? Nicht mal ›Du bist mein Held, Sylvain‹? Man soll nie wütend ins Bett gehen, ma belle Allie.«
Seine blauen Augen blitzten vergnügt, während er sie an sich zog – in die Umarmung, nach der sie sich kurz zuvor gesehnt hatte.
Aus reiner Dickköpfigkeit wehrte sie sich zunächst, doch als er ihr glucksend ins Ohr flüsterte: »Macht mehr Spaß, wenn du mithilfst«, musste sie selbst lachen. Seinem Akzent konnte sie sowieso nicht widerstehen, und diese Augen waren einfach unglaublich.
Er küsste ihre Wange, und sie spürte seinen warmen, willkommenen Atem auf ihrer Haut. Sie lehnte sich an ihn und hoffte, es würde ewig dauern.
»Entweder gehst du jetzt freiwillig ins Bett, oder ich schleife dich höchstpersönlich nach oben«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Allie versuchte, äußerlich cool zu bleiben, aber im Innern schmolz sie dahin.
»Mach, was du willst«, sagte sie und wandte sich ab, bevor er mitbekam, was für eine Wirkung er auf sie hatte.
Aber natürlich wusste er das längst.
»Träum süß«, rief er ihr mit unbeschwertem Lachen hinterher.
Ohne sich umzuschauen, rannte sie die Treppe hinauf.
Am nächsten Morgen wachte Allie um sechs Uhr auf und fühlte sich seltsam energiegeladen, als hätte sie immer noch das Adrenalin von gestern Abend im Blut. Sie stellte sich vor den Kleiderschrank und überlegte, was sie für die bevorstehende körperliche Arbeit anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für eine Trainingshose, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt mit Schulwappen. Mit einer Spange band sie ihr Haar zum Pferdeschwanz, griff nach dem weißen Zettel mit dem Verweis und trabte die Treppe hinunter.
Ihr Magen grummelte, aber es war noch keine Frühstückszeit. Auf gut Glück warf sie trotzdem einen Blick in den Speisesaal. Er war leer, doch auf einem Tisch entdeckte sie Schinkensandwiches auf einer Wärmeplatte und daneben einen silbernen Eiskübel mit Wasserflaschen. Zögernd betrat sie den Saal.
Das muss für uns sein, wieso sollte das sonst hier stehen?
Sie nahm sich ein Sandwich und eine Flasche und sah sich in dem leeren Raum um.
»Danke«, flüsterte sie und hielt die Flasche hoch, als wollte sie jemandem zuprosten.
Kauend durchquerte sie die stille Halle und ging die Eingangstreppe hinunter. Die Morgenluft war kühl, der Himmel verhangen. Taunasse Grashalme schlugen gegen ihre Knöchel und ließen sie frösteln.
Eigentlich ganz schön, so allein hier auf dem Gelände , dachte sie. Aber jeden Tag muss ich das nicht haben.
Sie rief sich die Ereignisse von gestern Abend in Erinnerung und spielte durch, wie sie Isabelle das Ganze so darstellen könnte, dass es weder hysterisch noch zu emotional klang. Gar nicht einfach.
Als sie in den Schatten der Bäume trat, erschauerte sie – hier war es mehrere Grad kälter als in der Sonne. Der Pfad schlängelte sich zwischen Kiefern und dornigem Brombeergestrüpp hindurch. Federige Farnfächer schlugen ihr sanft gegen die Waden, aber sie war nur mit den Ereignissen des gestrigen Abends beschäftigt und bemerkte es kaum.
Nach etwa zehn Minuten traf der Pfad auf eine niedrige Steinmauer und führte gut fünfzehn Meter an ihr entlang bis zu einem Törchen, das auf einen etwas zugewachsenen Friedhof hinausging. Mittendrin stand eine alte Steinkapelle, neben deren Eingangstür eine gelangweilt wirkende Schülerschar wartete. Als Allie merkte, dass alle ähnliche Kleidung trugen wie sie, atmete sie erleichtert auf. Da sie kein bekanntes Gesicht sah, blieb sie am Rand der Gruppe und lehnte sich gegen den knorrigen Stamm einer Eibe.
Sie hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als die Tür der Kapelle aufging und eine Frau erschien. Sie trug legere dunkle Leinenhosen und eine weiße Bluse, das lange, dunkle Haar war locker hochgesteckt. In der Hand hielt sie ein Klemmbrett.
»Darf ich um die Verweise bitten?«
Kommentarlos nahm sie die Zettel der Schüler entgegen, nur Allie sprach sie an:
»Du musst Allie sein.« Sie klang so erfreut, als hätten sie sich im Speisesaal auf eine Tasse Tee getroffen. »Isabelle hat mir viel von dir erzählt. Ich bin Eloise Derleth, die Bibliothekarin. Komm doch mal bei mir vorbei. Isabelle
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