Nightshifted
erst ein Biologiekurs
den Raum verlassen. Ich musste mich nicht übergeben, war aber verdammt dankbar
für die Handschuhe, als ich die Tür wieder zuwarf.
Das ⦠waren ziemlich viele Katzen für einen einzelnen
Tageslichtagenten. Und auf Y4 hatte ich auch noch nie eine Katze auf einem
Essenstablett gesehen.
»Hallo?«, versuchte ich es noch einmal. »Anna?«
Ich sollte jetzt gehen. Niemand würde wissen, dass
ich überhaupt hier gewesen war. Immerhin würde kein anderer Vampir zur Polizei
gehen und mich anzeigen. »Sie ist einfach reingegangen und hat sich meine Sammlung
toter Katzen angesehen, Officer.« Bis jetzt war ich noch auf der sicheren
Seite.
Und es war immer noch hell drauÃen, nicht wahr? Y4 lag unterirdisch, um
die Patienten zu schützen. Wenn sich also noch ein weiterer Vampir hier befand,
würde er wohl schlafen. Es sei denn, es war ein Tageslichtagent, der zwei
Katzen pro Tag brauchte.
»Hallo?«, rief ich wieder. »Ich komme vom Krankenhaus
â¦Â«, erklärte ich, während ich tiefer in die Wohnung hineinging. Im Flur stand
ein offener Schrank, dessen Schiebetüren an den Seiten mit Klebeband abgedichtet
waren und in dem ein leerer Schlafsack lag. Das war eine Erleichterung â es sei
denn, es handelte sich dabei um sein Gästezimmer. Ich bog um eine Ecke und
versuchte, mich innerlich auf alles Mögliche vorzubereiten.
Natürlich klappte das nicht. Denn auf manche Dinge
kann man sich einfach nicht vorbereiten.
Kapitel 5
Â
Das Schlafzimmer â falls
es das war â war voller Fotografien. Auf den ersten Blick schienen sie völlig
sinnfrei zu sein, wie ein buntes Flimmerbild, aber dann erkannte ich, dass die
Bilder Mädchen zeigten. Kleine Mädchen. Ihre Augen. Sie waren so angeordnet,
dass sie einander überlappten und fast nur die Augen zu sehen waren. Und diese
Augen ⦠na ja, in ihnen lag der blanke Terror. Einige wurden gerade
missbraucht. Andere gebissen. Wieder andere beides.
Vor Wut stieg mir bittere Galle in die Kehle. Ich
krümmte mich zusammen. Am liebsten hätte ich mich mit einer Hand abgestützt,
aber ich wollte die Bilder nicht berühren. Sie waren schon oft genug angefasst
worden.
Ich schluckte ein paarmal und holte tief Luft.
Hektisch zog ich die Umschläge aus meiner Tasche und riss sie auf. Als ich ihren
Inhalt sah, war ich so froh wie noch nie zuvor in meinem Leben, dass ich
Handschuhe trug. Es war dieselbe Art von Fotos wie an den Wänden. Ich lieà sie
zu Boden fallen und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
»Mr. November â was haben Sie getan?«
Die einzige Stelle, die ich ansehen konnte, war der
Boden, zumindest bis ich bemerkte, dass am anderen Ende des Raumes einige Kartons
aufgereiht waren. Als ich rüberging, bemerkte ich, dass sie mit alphabetisch sortierten
Namen beschriftet waren. Marion. Sascha. Veronica.
Ich wappnete mich innerlich und hob einen Deckel ab.
Der Karton enthielt ordentlich gelagerte Hängeakten voller Fotos, auf deren
Registern Daten standen, die fast nicht wahr sein konnten. Melinda, 1976â1981.
Melinda, 1985â2002. Ich überprüfte den Anfang der Fotoreihe und das Ende.
Während die Männer, Frauen und Hintergründe sich änderten, sah das Mädchen
immer genau gleich aus. Wenn diese Daten stimmten, war Melinda innerhalb von
sechsundzwanzig Jahren nicht gealtert.
»O Gott«, flüsterte ich.
Am Ende der Akte fand ich eine Notiz. »Gerettet.«
Was sollte das bedeuten? Entsprach das der Wahrheit?
Ich sah mich in dem Zimmer um. Das Entsetzen in den Augen der Mädchen bekam
jetzt einen flehenden Anstrich. Suchend.
War Anna eines von ihnen? Und wenn ja, wo war sie
jetzt?
Die Sanitäter hatten Mr. November mitten in der Nacht
in einer schlimmen Gegend auf der StraÃe gefunden. Ihrer Schätzung nach hatte
er ungefähr zwei Stunden lang dort gelegen, bis irgendjemand aus dem Viertel
daran gedacht hatte, einen Krankenwagen zu rufen. Sie waren überrascht gewesen,
dass er noch Portemonnaie und Schuhe gehabt hatte. Als seine Krankenschwester
war ich es nicht mehr. Er war ein Kämpfer gewesen. Und schlieÃlich hatten
Vampire â selbst die, die es nur zum Teil waren â etwas Seltsames an sich, das
ganz von allein dafür zu sorgen schien, dass die Aufmerksamkeit der Menschen
von ihnen abgelenkt wurde.
Aber warum sollte sich ein Tageslichtagent für kleine
Mädchen interessieren?
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